Full text: (Fünftes und sechstes Schuljahr) (Teil 3, [Schülerband])

21 
und der Tod gehe ihm aus dem Wege, wo er sich sehen lasse. Zu dem 
Arzte faßte der Mann ein Zutrauen und schrieb ihm seinen Umstand. Der 
Arzt merkte bald, was ihm fehle, nämlich nicht Arzenei, sondern Mäßigkeit 
und Bewegung, und sagte: „Wart, dich will ich bald kuriert haben!" — 
Deswegen schrieb er ihm ein Brieflein folgenden Inhalts: „Guter Freund! 
Ihr habt einen schlimmen Umstand; doch wird Euch zu helfen sein, wenn 
Ihr folgen wollt. Ihr habt ein böses Tier im Bauch, einen Lindwurm 
mit sieben Mäulern. Mit dem Lindwurm muß ich selber reden, und Ihr 
müßt zu mir kommen. Aber fürs erste, so dürft Ihr nicht fahren oder 
auf dem Rößlein reiten, sondern auf des Schuhmachers Rappen, sonst 
schüttelt Ihr den Lindwurm, und er beißt Euch die Eingeweide ab, sieben 
Därme auf einmal ganz entzwei. Fürs andere dürft Ihr nicht mehr essen 
als zweimal des Tages einen Teller voll Gemüse, mittags ein Bratwürstlein 
dazu und abends ein Ei und am Morgen ein Fleischsüpplein mit Schnitt¬ 
lauch daraus. Was Ihr mehr esset, davon wird nur der Lindwurm größer, 
also daß er Euch die Leber erdrückt, und der Schneider hat Euch nimmer 
viel anzumessen, aber der Schreiner. Dies ist mein Rat, und wenn Ihr 
mir nicht folgt, so hört Ihr im andern Frühjahr den Kuckuck nimmer 
schreien. Thut, was Ihr wollt!" — Als der Kranke so mit ihm reden 
hörte, ließ er sich sogleich den andern Morgen die Stiefeln salben und 
machte sich auf den Weg, wie ihm der Doktor befohlen hatte. Den ersten 
Tag ging es so langsam, daß eine Schnecke hätte können sein Vorreiter 
sein, und wer ihn grüßte, dem dankte er nicht, und wo ein Würmlein auf 
der Erde kroch, das zertrat er. Aber schon am zweiten und dritten Morgen 
kam es ihm vor, als wenn die Vögel schon lange nicht mehr, so lieblich 
gesungen hätten wie heut, und der Tau schien ihm so frisch und die Korn¬ 
rosen im Felde so rot, und alle Leute, die ihm begegneten, sahen so freund¬ 
lich aus, und er auch, und alle Morgen, wenn er aus der Herberge aus¬ 
ging, war's schöner, und er ging leichter und munterer dahin. Und als 
er am 18. Tage in der Stadt des Arztes ankam und den andern Morgen 
aufstand, war es ihm so wohl, daß er sagte: „Ich hätte zu keiner unge¬ 
schickteren Zeit können gesund werden als jetzt, wo ich zum Doktor soll. 
Wenn's mir doch nur ein wenig in den Ohren brauste oder das Herzwasser 
lief mir!" Als er zum Doktor kam, nahm dieser ihn bei der Hand und 
sagte: „Jetzt erzählt mir denn noch einmal von Grund aus, was Euch 
fehlt." Da sagte er: „Herr Doktor, mir fehlt, gottlob, nichts, und wenn 
Ihr so gesund seid wie ich, so soll's mich freuen." Der Doktor sagte: 
„Das hat Euch ein guter Geist geraten, daß Ihr meinen Rat befolgt habt. 
Der Lindwurm ist jetzt abgestanden. Aber Ihr habt noch Eier im Leibe, 
deswegen müßt Ihr wieder zu Fuß heimgehen und daheim fleißig Holz 
sägen und nicht mehr essen, als Euch der Hunger ermahnt, damit die Eier 
nicht ausschlüpfen, so könnet Ihr ein alter Mann werden," und lächelte 
A. III. Hess. Leseb. ' 3
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.