Full text: Lesebuch für Schlesien

28. Legende vom Hufeisen. 
Als noch, verkannt und sehr gering, 
unser Herr auf der Erde ging, 
und viele Jünger sich zu ihm fanden, 
die sehr selten sein Wort verstanden, 
z liebt' er sich gar über die Maßen, 
seinen Hof zu halten auf der Straßen, 
weil unter des Himmels Angesicht 
man immer besser und freier spricht. 
Er ließ sie da die höchsten Lehren gehen, 
10 aus seinem heiligen Munde hören; sieht er daselbst schöne Kirschen stehen, 
besonders durch Gleichnis und kauft ihrer so wenig oder so viel, 
Exempel als man für einen Dreier geben will, 
macht' er einen jeden Markt zum die er sodann nach seiner Art 
Tempel. ruhig im Armel aufbewahrt. 
So schlendert' er in Geistes Ruh' Nun ging's zum andern Tor hinaus 
mit ihnen einst einem Städtchen zu, durch Wies' und Felder ohne Haus, 
15 sah etwas blinken auf der Straß', auch war der Weg von Bäumen bloß; 
das ein zerbrochen Hufeisen was. die Sonne schien, die Hitz' war groß, 
Er sagte zu Sankt Peter drauf: so daß man viel an solcher Stätt' 
„Heb doch einmal das Eisen auf!“ für einen Trunk Wasser gegeben 
Sankt Peter war nicht aufgeräumt, hatt 
20 er hatte soeben im Gehen geträumt Der Herr geht immer voraus vor 
so was vom Regiment der Welt, allen, 
was einem jeden wohlgefällt. 50 läßt unversehens eine Kirsche fallen. 
Denn im Kopf hat das keine Sankt Peter war gleich dahinter her, 
Schranken, als wenn es ein goldner Apfel wär'; 
das waren so seine liebsten Gedanken. das Beerlein schmeckte seinem Gaum. 
25 Nun war der Fund ihm viel zu Der Herr nach einem kleinen Raum 
klein, ein ander Kirschlein zur Erde schickt, 
hätte müssen Kron' und Zepter sein; wonach Sankt Peter schnell sich bückt. 
aber wie sollt' er seinen Rücken So läßt der Herr ihn seinen Rücken 
nach einem halben Hufeisen bücken? gar vielmal nach den Kirschen bücken. 
Er also sich zur Seite kehrt Das dauert eine ganze Zeit. 
30 und tut, als hätt' er's nicht gehört. 60 Dann sprach der Herr mit Heiterkeit: 
45 
„Tät'st du zur rechten Zeit dich regen, 
hätt'st du's bequemer haben mögen. 
Wer geringe Ding' wenig acht't, 
sich um geringere Mühe macht.“ 
Johann Wolfgang von Goethe.
	        
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