Full text: Zweites Lesebuch für die Oberstufe (Teil 6, [Schülerband])

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PV. Bilder aus der Natur. 
100. Ein Sommermorgen. 
Die Natur feiert an jedem Sommermorgen ein Fest ihrer 
eignen Schönheit, und selbst den rohen Wilden erschüttert die 
Gewalt dieser göttlichen Erscheinung. Welche Gefühle müssen 
des erleuchteten Christen Herz da bewegen! 
Die Nacht hat ihr erquickendes Werk vollbracht; sie hat 
dem Müden neue Kraft, dem Kranken balsamischen Schlummer, 
dem Unglücklichen Trãàume des Trostes gegeben. Nahe ist die 
Stunde des Erwachens aller. Schon umschwimmt eine blasse 
Damm'rung die Hügel und Wälder; Hütten und Gebüsche treten 
schon verworren und klarer aus den geheimen Finsternissen, und 
silberweiße Nebel lagern auf den Wiesen und über den Flüssen 
enger zusammengedrängt. Zu den Wolken des Himmels steigt 
singend die Lerche empor, um den werdenden Tag zu begrüßen; 
aus der Ferne herüber tönet des Hahnes Krähen und verkündet den 
anbrechenden Morgen. Kalt und düster schweben, wie riesenhafte 
Schatten, am Rande des Gesichtskreises die hohen Gebirge. 
Immer heller glänzgen die Farben der nahen Gegenstände. 
Der Morgenstern funkelt blab über Gewölke nieder, deren Saum 
sich in der Tiefe entzündet und mit dunkler Glut über die Fluren 
leuchtet. Ein goldnes Feuer strömt durch den ganzen Himmel 
herauf; es wird gewaltiger von Augenblick zu Augenblick. Die 
Gipfel der Berge lodern wie Flammen auf Opferaltãären; Verklärung 
umfliebt die Haine und Höhen, und selbst die Wolken des Abends 
leuchten herrlich zurück. Die Vögel in den Gebüschen erwachen 
und entflattern ihren Nestern; die Herden werden rege; der thätige 
Landmann tritt vor die Hütte in die Wohlgerüche der blumen— 
reichen Flur hinaus. Aber tiefe Stille waltet noch immer in der 
Welt, und wie in grober Erwartung liegt alles lauschend da. 
Und ein kühler Hauch von Morgen her durchschauert alle 
Wesen, durchbebt die blühenden Zweige des Baumes, und die 
Blumen des Feldes zittern darin. Die Gebirge erglänzen. Wie 
schimmernde Rauchsäulen wälzen sich plötzlich die Nebel von 
Wiesen und Strömen gen Himmel empor. Es rauscht freudiger 
die Welle des Baches; die Lüfte ertôòaen vom Gesange mannig- 
faltiger Vögel; frohes Leben rauscht in Dörfern und Städten — 
die ganze Erde jauchzt, der ganze Himmel flammt — — die 
Sonne ist aufgegangen! O welch ein Gewũhl von reizenden Farben 
und Tönenl Welch ein begeisterndes Schauspiel Die Welt-
	        
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