77 —
immer zur Hand gehabt, wenn auch auswärts Fürsten und Ritter
der Stadt ihre Jagdbefugnis kümmerten und störlen, oder wohl gar
Feinde die Stadt eingeschlossen oder belagert hielten. Dies gefiel
uns sehr, und wir wünschten, eine solche zahme Wildbahn wäre
auch bei unsern Zeiten zu sehen gewesen.
5. Die Hinterseite des Hauses hatte, besonders aus dem obern
Stock, eine sehr angenehme Aussicht über eine beinahe unabsehbare
Fläche von Nachbarsgärten, die sich bis an die Sladtmauer ver—
breiteten. Leider aber war bei Verwandlung der sonst hier befind-
lichen Gemeindeplätze in Hausgärten unser Haus und noch einige
andere, die gegen die Straßenecke zu lagen, sehr verkürzt worden,
indem die Haäuser vom Roßmarkt her weitläuftige Hintergebäude und
große Gärten sich zueigneten, wir aber uns durch eine ziemlich hohe
Mauer unseres Hofes von diesen so nahe gelegenen Paradiesen aus—
geschlossen sahen.
6. Im zweiten Stock befand sich ein Zimmer, das man das
Gartenzimmer nannte, weil man sich daselbst durch wenige Gewächse
vor dem Fenster den Mangel eines Gartens zu ersetzen gesucht hatte.
Dort war, wie ich heranwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger,
aber doch sehnsüchtiger Aufenthalt. Über jene Gärten hinaus, über
Stadtmauern und Wälle sah man in eine schöne, fruchtbare Ebene,
es ist die, welche sich nach Höchst hinzieht. Dort lernte ich zur
Sommerszeit gewöhnlich meine Lektionen, wartete die Gewitter ab
und konnte mich an der untergehenden Sonne, gegen welche die
Fenster gerade gerichtet waren, nicht satt genug sehen Da ich aber
zu gleicher Zeit die Nachbarn in ihren Gärten wandeln und die
Blumen besorgen, die Kinder spielen, die Gesellschaften sich ergötzen
sah, die Kegelkugel rollen und die Kegel fallen hörte, so ertegte dies
frühzeitig in mir ein Gefühl der Einsamkeit und einer daraus ent—
springenden Sehnsucht, das, dem von der Natur in mich gelegten
Ernsten und Ahnungsvollen entsprechend, seinen Einfluß gar bald in
der Folge noch deutlicher zeigte.
7. Die alte, winkelhafte, an vielen Stellen düstere Beschaffen—
heit des Hauses war übrigens geeignet, Schauer und Furcht in
kindlichen Gemütern zu erwecken. Unglücklicherweise hatte man noch
die Erziehungsmaxime?), den Kindern frühzeitig alle Furcht vor dem
Ahnungsvollen und Unsichtbaren zu benehmen und sie an das Schauder⸗
hafte zu gewöhnen. Wir Kinder sollten daher allein schlafen, und
wenn uns dieses unmöglich fiel und wir uns sacht aus den Betten
hervormachten und die Gesellschaft der Bedienten und Mägde suchten,
so stellte sich, in umgewandtem Schlafrock und also für uns verkleidel
genug, der Vater in den Weg und schreckte uns in unsere Ruhe—
stätte zurück. Die daraus entspringende üble Wirkung denkt sich
jedermann. Wie soll derjenige die Furcht los werden, den man
zwischen ein doppelt Furchtbares einklemmt? Meine Mutter, stets
heiter und froh und andern das Gleiche gönnend, erfand eine bessere
5
38
6