Full text: Zweites Lesebuch für die Oberstufe (Teil 6, [Schülerband])

268 
Aus der Sage und Geschichte des deutschen Volkes. 
er noch immer damit, seine Werbung auszusprechen, — „doch die Liebe wob 
leis ihr Zauberband“. 
Nach einiger Zeit beschloß König Gunther, übers Meer nach Isen— 
land (Island) zu fahren, um dort um die schöne Königin Brunhild zu 
werben. Brunhild aber war von ungewöhnlicher Kraft und wollte nur 
demjenigen sich verloben, der sie im Speerwerfen, Steinwurf und Wettsprung 
besiegt habe. Siegfried warnte Gunther vor dem gefährlichen Unternehmen, 
doch zuletzt war er bereit, ihm im Kampfe beizustehen, wenn Gunther ihm 
die schöne Kriemhild zur Gattin gäbe. Gern willigte der König ein. Von 
Hagen und Dankwart begleitet, fuhren Gunther und Siegfried den Rhein 
abwärts ins Meer und landeten nach zwölf Tagen bei der Feste Isenstein. 
Als die Königin Brunhild dem herrlichen Siegfried vor den andern den Gruß 
entbot, sprach er, sie täuschend: „Nicht also, edle Königin, meinem Herrn, 
König Gunther, gebührt der erste Gruß; ich aber bin nur sein Dienst— 
mann.“ Bald begann das Kampfspiel. Siegfried, der durch die Tarnkappe 
sich unsichtbar gemacht hatte, stand Gunther im Kampfe bei, und so wurde die 
Heldenjungfrau besiegt. Alle fuhren hierauf, Brunhild mit ihnen, nach dem 
Burgundenlande zurück, wo in Worms die Doppelhochzeit gefeiert wurde. 
Aber wie froh König Gunther auch war, aus Brunhildens Augen brachen 
Thränen, dieweil ihr Gemahl seine Schwester einem Dienstmann verlobt 
hatte. Gunther offenbarte ihr das Geheimnis nicht. Die Saat der Lüge, mit 
der Gunther und Siegfried Brunhild gewonnen hatten, begann zu keimen. 
Nach dem Feste zog Siegfried mit seiner Gattin Kriemhild heim nach Xanten, 
wo ihm alsbald sein alternder Vater Siegmund die Herrschaft übergab. 
3. Der Haß Brunhildens gegen Kriemhild. Nach zehn Jahren 
folgten zur altgeheiligten Zeit der Sonnenwende Siegfried und Kriemhild 
einer Einladung ihrer Verwandten nach Worms. Schon waren zehn Tage 
des Festes in Frohsinn verflossen, da entspann sich ein harter Streit zwischen 
Kriemhild und Brunhild. Beide Königinnen schauten auf hohem Altane 
den Kampfspielen der Ritter zu. Keiner that es dem herrlichen Siegfried 
gleich. „Wie glücklich bin ich,“ rief Kriemhild aus, „eines solchen Helden 
Weib zu sein!“ Brunhild aber erwiderte, daß Siegfried doch nur ihres 
Mannes Dienstmann sei; sie habe das von Siegfried selber gehört. Da 
antwortete Kriemhild in heißem Zorne: „So muß es sich zeigen, ob mein 
Gatte unfrei und leibeigen ist! Noch heute werde ich beim Kirchgang vor 
dir das Gotteshaus betreten!“ An der Thür des Münsters aber gebot ihr 
Brunhild vor allem Volke: „Halt an! es ziemt der Eigenmagd nicht, vor 
ihrer Herrin durch des Münsters Thür zu schreiten.“ Dies Wort wirkte 
wie ein Donnerschlag auf das stolze Herz Kriemhildens, und voll Erbitterung 
verriet sie das Geheimnis vom Kampfe im Isenlande, indem sie ausrief:
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.