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Dein Lenz, der blütenvolle,
Dein reicher Sommer schwand;
An die gefrorne Scholle
Bist du nun festgebannt.
Da plötzlich floß ein klares
Getön in Lüften hoch:
Ein Wandervogel war es,
Der nach dem Süden zog.
Ach, wie der Schlag der Schwin—
gen,
Das Lied ins Ohr mir kam,
Fuͤhlt' ich's wie Trost mir dringen
Zum Herzen wundersam.
Es mahnt aus heller Kehle
Mich ja der flücht'ge Gast:
„Vergiß, o Menschenseele,
HRicht, daß du Flügel hast!“
123. Die Boten des Todes.
(Gebr. Grimm.)
Vor alten Zeiten wanderte einmal ein Riese auf der
grosssen Landstrassse; da sprang ihm plötzlieh ein unbekann-
ker Mann entgegen und rief: „Halt! keinen Sehritt woiter!
— „Was?“ gpraceh der Riese, „du Wieht, den ieh zwisehen
den Fingern zerdrücken Kann, du villst mir den Weg ver-
roten or bist du, dafs du so kecek reden darfst?“ —
„Ieh bin dor Tod,“ erwiderte der andere; „mir widersteht
hiemand, und aueh du musst meinen Befehlen gehorchen.“
Der Riege aber weigerte sien und fing an, mit dem Tode
zu ringen. Es war ein langer, heftiger Kampf; zuletæt aber
behielt dor Riese die Obèrhand und sehlug den Tod mit
seiner Faust niedeèr, dass er neben einem Stein 2usammen-
sank Der Riese ging seiner Wege, und der Tod lag da
besiegt und war so kraftlos, dals er sieh nieht wieder
erheben konnte. „Was soll daraus werden,“ sprach er,
„Venn ieh da in der Eeke liegen bleibe? PEs stirbt
Riemand webr auf der Erde, und sie wird so mit Men-
sehen angefüllt werden, dass sie nieht mehr Platz haben,
nebeneinander zu stehen.“ Indem kam ein junger Menseh
des Weges, frisch und gesund, sang ein Lied und
varf seine Kugen hin und her. Als er den Halbohnmäch-
tigen erbliekte, ging er mitleidig heran, riehtete ihn auf,
flosste bmn aus seiner Plasehe einen stärkenden Drank ein
und warteto, bis er wvieder zu Kräften kam. „Weilst du
aueh,“ fragte der Eremde, indem er sieh aufrichtete, „Wer
ieh bin, und wem du wieder auf die Beine geholfen hast?“
„Fein,« antwortete der Jüngling, ieh kenne dieh nieht.“
Ieh bin der Tod,“ sprach er; „ieh verschone niemand