Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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In seiner Lebensweise war Karl ein schlichter Mann; dennoch aber er¬ 
kannte jeder in ihm den Herrscher. Wenn auch sein Privatleben nicht 
immer rein war, so war er doch an Weisheit und Hoheit des Sinnes der 
erste unter den Fürsten seiner Zeit; weder verzagte er in der Gefahr, noch 
erhob er sich im Glücke. Schon seine Zeitgenossen nannten ihn den Großen, 
aber er sagte: Gott allein ist groß, ihm allein gebührt die Ehre! An 
schweren Prüfungen fehlte es ihm auch nicht. Seine besten und tapfersten 
Söhne, Karl und Pipin, starben früh, ein anderer trachtete ihm nach Leben 
und Reich, so daß ihn der Vater zu ewigem Gefängnis verurtheilte; der 
jüngste und am wenigsten befähigte, Ludwig, blieb so allein für den Thron 
übrig. Ihn führte Karl zur Kaiserweihe nach Aachen, dort ermahnte er 
ihn vor allen Großen des Landes und vor allem Volke, daß er Gott alle¬ 
zeit vor Augen habe, die Kirche vor Unbill schütze, die Bischöfe ehre als 
seine Väter, das Volk liebe als seine Kinder, den Frevlern aber ein strenger 
Richter sei, und befahl ihm dann, sich die Krone vom Altare zu nehmen 
und sie sich selbst aufs Haupt zu setzen. — 
Nun schloß Karl mit der Welt ab, blieb still in seinen Gemächern 
und las und betete viel. Als er sein Ende nahe fühlte, ließ er einen ge¬ 
treuen Bischof kommen und cmpfieng aus seiner Hand das Abendmahl. 
Am Morgen des 28. Januar des Jahres 814 war seine letzte Stunde ge¬ 
kommen. Er bezeichnete sich mit dem Kreuze, faltete die Hände über die 
Brust, schloß die Augen und betete mit leiser Stimme: Herr, in deine 
Hände befehle ich meinen Geist! Dann verschied er. Überall war tiefe 
Trauer und Klage. In der Kirche zu Aachen ward er bestattet, auf dem 
Throne sitzend, auf seinen Knien das Evangelienbuch, zu seinen Füßen das 
Scepter und den Schild. Köpr-. 
100. Karls des Großen äußere Erscheinung. 
Karl der Große war — nach Einhard's, seines Zeitgenossen, Schil¬ 
derung — ein Mann von so hochgewachsener Gestalt, daß er nach dem 
Maßstabe seines eigenen Fußes sieben Fuß maß. Eine Eisenlanze ans 
seiner Zeit, die noch vorhanden ist, zeigt seine Größe au. Mit dieser un¬ 
gewöhnlichen Größe standen auch die übrigen Verhältnisse seines Körpers 
in vollkommenstem Einklänge. Der feste und sichere Schritt, mit dem er 
auftrat, und die würdige Haltung, welche man, mochte er gehen, stehen 
oder sitzen, stets an ihm wahrnahm, gaben seiner Natur schon etwas 
Majestätisches; dazu kam der Ausdruck und die Würde einer sehr bedeu¬ 
tenden Physiognomie. Unter der hochgewölbten Stirn trat die Nase kräftig 
heraus, große und lebhafte Augen gaben seinem Gesicht etwas offenes und 
heiteres, wenn er munter gelaunt war, aber einen vernichtenden und zu 
Boden schmetternden Ausdruck, wenn die Blitze des Zornes daraus her¬ 
vorschossen. 
Seine gewöhnliche Bekleidung bestand in einem eng anschließenden 
Rock von Leinwand, der am oberen und unteren Saum und desgleichen 
vorn von oben nach unten herunter mit seidenen Streifen besetzt war. Die 
Beine waren mehrfach beschützt, erst durch leinene Unterkleider, dann durch 
eine Hose, welche von unten bis zum Knie mit Bändern reichlich umwunden
	        
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