Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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selbst inmitten der lutherischen Kirche mannigfacher Streit sich erhob, in 
dem es die Wahrheit mannhaft zu bekennen und zu vertheidigen galt, da 
zitterte und trauerte Melanchthon wohl, aber jene Glaubenszuversicht und 
Bckenntnisfreudigkeit ward nicht au ihm erfunden, wie die ernste Zeit sie 
forderte. Eintracht und Frieden für die Kirche ersehnend und erflehend, 
verschied er im herzinnigen Glauben an seinen Erlöser (19. April 1560) 
und ward in derselben Kirche begraben, in welcher auch Luther ruht. 
A. Wippermann. 
261. Teutscher Rath. 
1. Bor Allem Eins, mein Kind: Sei treu und wahr, 
Laß nie die Lüge deinen Mund entweih'n! 
Von Alters her im deutschen Volke war 
Der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein. 
2. Du bist ein deutsches Kind, so denke dran: 
Roch bist du jung, noch ist es nicht zu schwer. 
Aus einem Knaben aber wird ein Mann; 
Das Bäumchen biegt sich, doch der Bann, nicht mehr. 
3. Sprich „ja" und „nein" und dreh' und deutle nicht; 
Was du berichtest, sage kurz und schlicht; 
Was du gelobest, sei dir höchste Pflicht; 
Dein Wort sei heilig, drum verschwend' es nicht! 
4. Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran, 
Zuerst ein Zwerg, ein Riese hintennach! 
Doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an, 
Und eine Stimme ruft in dir: „Sei wach!" 
5. Dann wach' und kämpf'/ es ist ein Feind bereit: 
Die Lüg' in dir, sie drohet dir Gefahr. 
Kind! deutsche kämpften tapfer allezeit; 
Du deutsches Kind, sei tapfer, treu und wahr! R. Reinlke. 
262. Seid ihr der König oder der Bauer? 
Es ist nichts lieblicher, als wenn bisweilen gekrönte Häupter sich un¬ 
erkannt zu dem gemeinen Mann herablassen, wie König Heinrich der Vierte 
von Frankreich, sei cs auch nur zu einem gutmüthigen Spaß. 
Zu König Heinrich des Vierten Zeit ritt ein Bäuerlein vom Lande 
her des Weges nach Paris. Nicht mehr weit von der Stadt gesellte sich 
zu ihm ein anderer gar stattlicher Reiter, welches der König war, und 
sein kleines Gefolge blieb absichtlich in einiger Entfernung zurück. Woher 
des Landes, guter Freund? — Da und da her. — Ihr habt wohl Geschäfte 
zu Paris? — Das und das, auch möchte ich gern unsern guten König 
einmal sehen, der so väterlich sein Volk liebt. — Da lächelte der König 
und sagte: Dazu kaun euch heute Gelegenheit werden. — Aber wenn ich 
auch nur wüßte, welcher cs ist unter den Vielen, wenn ich ihn sehe! — 
Der König sagte: Dafür ist Rath. Ihr dürft nur acht geben, welcher 
den Hut allein auf dem Kopfe behält, wenn die Anderen ehrerbietig ihr 
Haupt entblöße». — Also ritten sie mit einander in Paris ein, und zwar 
das Bäuerlein hübsch auf der rechten Seite des Königs. Denn es kann 
nie fehlen: Was die liebe Einfalt Ungeschicktes thun kann, sei cs gute 
Meinung oder Zufall, das thut sie. Aber ein gerader und nnverkünstelter 
Bauersmann, was er thut und sagt, das thut und sagt er mit ganzer Seele,
	        
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