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einmal: „Wär' es eine Falle? — die Menschenkinder sind voll Args! —
Schon mancher Edle fiel durch ihre List! — Aber nein — hinweg mit
solchen Gespenstern!" Und im Nu ist auch der zweite Brocken hinab.
O Reineke, Reineke! — Du bist verloren — denn dort liegt noch
ein dritter Bissen. In vollen Zügen schlürft der Hungcrgepeinigte das
berauschende Arom, starrt verglasten Blickes auf die Lockung. Doch der
innere Warner erhebt seine Stimme noch einmal. Und wieder umkreist
der Fuchs das leckere Mahl, wieder duckt er sich, legt das Gehör vorwärts,
rückwärts, spitzt es, „sichert" allenthalben. Und wieder ist alles stumm,
nur die Föhren knarren noch immer verdrossen. Es ist, als stocke der
Athem der Natur. Der Fuchs fängt an zu vernünfteln; aber je länger
er hinschaut auf das verhängnisvolle Gericht, desto wirrer werden seine
Gedanken, desto wirrer sein Blick. Es flimmert ihm vor den Augen, der
Duft betäubt ihn, er kann nicht los, er muß — und geilt’ es sein Leben
— er muß hinzu. In einem wilden Satze springt er darauf los — da
krach! schlägt das Eisen die zerschmetternden Zähne zusammen. —
So war der Schlaue doch nicht schlau genug! Er heult vor Wuth;
aber es ist nicht Zeit zu ohnmächtiger Klage; denn Gefahr droht im Ver¬
züge. Es gilt eine böse That: er beißt sich den Fuß ab. — Einmal ge¬
fangen, denkt er, und nimmer wieder! und er jagt davon, leicht und frei,
„als hätt' er eben nur den Stiefel ausgezogen." Die Niederlage muß sein
Genie neue Künste und neue Siege lehren. M°sius.
27. Der Fuchs und der Nabe.
Ein Rabe hatte einen Käse gestohlen und setzte sich aus einen Baum,
um ihn hier zu verzehren. Dies bemerkte ein Fuchs, schlich hinzu und
sprach: „O Rabe, du bist doch ein schöner Vogel! Dein Gefieder glänzt
wie die Federn des Adlers. Ist deine Stimme auch so schön, dann bist
du der schönste Vogel der Welt." Den Raben kitzelte dieses Lob, und er
sieng an zu schreien. Als er aber den Schnabel öffnete, entfiel ihm der
Käse. Der Fuchs sprang hinzu, schnappte ihn ans, verschlang ihn und
lachte den thörichten Raben ans. Ä,op.
28. Die Kinder im Walde.
Gar wohlgeuiuth und guter Ding
Zum Wald ein Kuab'und Mägdlein gieng.
Der Tag war draußen heiß und schwül,
Der Wald hingegen frisch und kühl.
Hier liefen sie die Kreuz und Quer
Und pflückten Erd- *ind Heidelbeer! —
Bald rief der Bruder: „Schwester, hier,
Die schönsten Beeren stehn bei mir!"
Bald sprach die Schwester: „Bruder, nein,
Hier werden noch viel schönre sein!"
Zum Bruder springt die Schwester drauf,
Ißt dort die schönsten Beeren auf;
Und mit ihr muß der Bruder gehn,
Wo ihre noch viel schönren stehn.
So stopfen sie die Beerelein
Fortan mit vollen Händen ein,
Bis jedes zu dem andern spricht:
„'s ist nun genug, mehr kann ich nicht!"
Und bis der kleine Bauch so schwer,
Daß fast ein Reif drum nöthig wär'.
Sie setzen sich an einen Baum;
Sie sprechen nichts, sie athmen kaum;
Und eins sich an das andre lehnt,
Und eines nach dem andern gähnt,
Bis daß der süße Schlaf sic leicht
Im kühlen Schatten überschlcicht.
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