Full text: [Teil 4 = Kl. 5 u. 4] (Teil 4 = Kl. 5 u. 4)

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nicht gesprochen, sondern gesungen, und sie waren nicht die einzige 
Poesie, die bei den Gelagen und Festen der Germanen sich hören ließ. 
Es gab hochgeehrte Sänger, die zum Klang der Harfe von den Ge— 
schicken der Götter, namentlich den Fahrten des Donnergottes, wie von 
den Taten der Väter zu singen und die Herzen der Hörer zu bewegen 
verstanden. Man hatte auch gesellige Lieder, die im Chor oder Wechsfel— 
gesang vorgetragen wurden. Dem Saitenspiel gesellte sich dann der 
fröhliche Klang der Schwegelpfeife. Gesungen wurde überhaupt viel im 
deutschen Urwalde. Sogar die Nächte vor Schlachttagen brachten die 
Germanen bei frohem Gelage mit schallendem Gesange zu, der in Berg 
und Wald schaurig widerhallte, so daß die lauschenden Römer ein 
Grausen ankam. Bei Opfern und Familienfeierlichkeiten, namentlich dem 
Brautkauf, beim Beginn der Schlacht, bei Siegesfesten, bei Bestattungen 
ertönte nicht minder Gesang. Erhalten ist uns von allen diesen Ge— 
sängen nicht eine Zeile. Sie gingen verloren, weil niemand sie auf— 
schrieb. Lesen und Schreiben waren noch in viel späterer Zeit bei den 
Deutschen selten geübte Künste. Man hatte allerdings in der Urzeit eine 
Art Schrift, die sogenannten Runen. Das Wort „Rune“ bedeutet 
eigentlich Geheimnis. Es waren große Zeichen, im ganzen etwa vier— 
undzwanzig, die man auf buchene Stäbchen einritzte, woher das Wort 
„Buchstab“ entstanden ist. Aber nicht zum Schreiben und Lesen in 
unserm Sinne, zu größeren Aufzeichnungen benutzte man sie, sondern 
zum Wahrsagen und Loswerfen. Man schüttelte nämlich die mit Runen 
bezeichneten Stäbchen durcheinander und warf sie dann auf ein aus— 
gebreitetes Tuch. Der Hausvater, der den göttlichen Willen oder die 
Zukunft erforschen wollte, griff darauf mit abgewendetem Antlitz mehrere 
der Stäbchen auf, wobei er Beschwörungsformeln raunte, und las sie 
zusammen. Da jede Rune zugleich die Bedeutung einer Sache hatte, 
z. B. Sieg, Not, Kriegsgott, Auerochs usw., so konnte man aus den 
aufgelesenen Stäbchen eine Weissagung zusammensetzen. 
Es fehlte, wie aus dem Gesagten hervorgeht, auch den geselligen 
Vergnügungen der Germanen nicht an der Weihe der Poesie und Musik. 
Daneben ward freilich auch weniger erhabenen Freuden gehuldigt, 
namentlich dem Würfelspiel, das man mit großem Ernste trieb, 
übrigens nicht immer aus Spielwut oder Gewinnsucht, sondern auch 
oft, um mit Hilfe der Würfel die Zukunft zu erforschen. Wie hoch 
das Spiel in Ansehen stand, beweist der Glaube, daß der höchste Gott 
Wodan die Würfel erfunden habe zur Kurzweil der Götter und 
Göttinnen in seinem himmlischen Saale Walhall. Das Trinken selber 
wurde mit Gründlichkeit und einer gewissen Feierlichkeit betrieben. 
Ein tiefer Ernst aber ging durch die Versammlung, wenn man die 
„Minne“, d. h. das Andenken eines teuren Toten oder eines verehrten 
Abwesenden trank. Auch die Minne der Götter wurde durch Leeren
	        
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