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nicht gesprochen, sondern gesungen, und sie waren nicht die einzige
Poesie, die bei den Gelagen und Festen der Germanen sich hören ließ.
Es gab hochgeehrte Sänger, die zum Klang der Harfe von den Ge—
schicken der Götter, namentlich den Fahrten des Donnergottes, wie von
den Taten der Väter zu singen und die Herzen der Hörer zu bewegen
verstanden. Man hatte auch gesellige Lieder, die im Chor oder Wechsfel—
gesang vorgetragen wurden. Dem Saitenspiel gesellte sich dann der
fröhliche Klang der Schwegelpfeife. Gesungen wurde überhaupt viel im
deutschen Urwalde. Sogar die Nächte vor Schlachttagen brachten die
Germanen bei frohem Gelage mit schallendem Gesange zu, der in Berg
und Wald schaurig widerhallte, so daß die lauschenden Römer ein
Grausen ankam. Bei Opfern und Familienfeierlichkeiten, namentlich dem
Brautkauf, beim Beginn der Schlacht, bei Siegesfesten, bei Bestattungen
ertönte nicht minder Gesang. Erhalten ist uns von allen diesen Ge—
sängen nicht eine Zeile. Sie gingen verloren, weil niemand sie auf—
schrieb. Lesen und Schreiben waren noch in viel späterer Zeit bei den
Deutschen selten geübte Künste. Man hatte allerdings in der Urzeit eine
Art Schrift, die sogenannten Runen. Das Wort „Rune“ bedeutet
eigentlich Geheimnis. Es waren große Zeichen, im ganzen etwa vier—
undzwanzig, die man auf buchene Stäbchen einritzte, woher das Wort
„Buchstab“ entstanden ist. Aber nicht zum Schreiben und Lesen in
unserm Sinne, zu größeren Aufzeichnungen benutzte man sie, sondern
zum Wahrsagen und Loswerfen. Man schüttelte nämlich die mit Runen
bezeichneten Stäbchen durcheinander und warf sie dann auf ein aus—
gebreitetes Tuch. Der Hausvater, der den göttlichen Willen oder die
Zukunft erforschen wollte, griff darauf mit abgewendetem Antlitz mehrere
der Stäbchen auf, wobei er Beschwörungsformeln raunte, und las sie
zusammen. Da jede Rune zugleich die Bedeutung einer Sache hatte,
z. B. Sieg, Not, Kriegsgott, Auerochs usw., so konnte man aus den
aufgelesenen Stäbchen eine Weissagung zusammensetzen.
Es fehlte, wie aus dem Gesagten hervorgeht, auch den geselligen
Vergnügungen der Germanen nicht an der Weihe der Poesie und Musik.
Daneben ward freilich auch weniger erhabenen Freuden gehuldigt,
namentlich dem Würfelspiel, das man mit großem Ernste trieb,
übrigens nicht immer aus Spielwut oder Gewinnsucht, sondern auch
oft, um mit Hilfe der Würfel die Zukunft zu erforschen. Wie hoch
das Spiel in Ansehen stand, beweist der Glaube, daß der höchste Gott
Wodan die Würfel erfunden habe zur Kurzweil der Götter und
Göttinnen in seinem himmlischen Saale Walhall. Das Trinken selber
wurde mit Gründlichkeit und einer gewissen Feierlichkeit betrieben.
Ein tiefer Ernst aber ging durch die Versammlung, wenn man die
„Minne“, d. h. das Andenken eines teuren Toten oder eines verehrten
Abwesenden trank. Auch die Minne der Götter wurde durch Leeren