Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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Doch nimmt es richtig seinen Husch, 
Und mit gewandter Schnelle 
Eilt cs durch Anger, Feld und Busch 
Zur Kirche, zur Kapelle. 
Und jeden Sonn- und Feiertag 
Gedenkt es an den Schaden, 
Läßt durch den ersten Glockenschlag, 
Nicht in Person sich laden. 
W. v. Goethe. 
61. Das Wunderkästchen. 
Eine Hausfrau hatte iu ihrer Haushaltung allerlei Uuglücksfällc, und 
ihr Vermögen nahm jährlich ab. Da gieng sie in den Wald zu einem 
alten Einsiedler, erzählte ihm ihre betrübenden Umstände und sagte: „Es 
geht in meinem Hause einmal nicht mit rechten Dingen zu. Wißt ihr kein 
Mittel, dem Übel abzuhelfen?" — Der Einsiedler, ein fröhlicher Greis, 
hieß sie ein wenig warten, brachte über ein Weilchen ein kleines versiegeltes 
Kästchen und sprach: „Dieses Kästlein müßt ihr ein Jahr lang, dreimal 
des Tages und dreimal bei Nacht, in Küche, in Keller und Stallung und 
allen Winkeln des Hauses herumtragen, so wird es besser gehen. Bringt 
mir aber über's Jahr das Kästlein wieder zurück!" 
Die gute Hausfrau setzte in das Kästchen ein großes Vertrauen und 
trug es fleißig umher. Als sie den nächsten Tag in den Keller gieng, wollte 
der Knecht eben einen Krug Bier heimlich herauftragen. Als sie noch spät 
in der Nacht in die Küche kam, hatten die Mägde sich einen Eierkuchen 
gebacken. Als sie die Stallungen durchwanderte, standen die Kühe tief 
im Koth, und die Pferde hatten anstatt des Hafers nur Heu uud waren 
nicht gestriegelt. So hatte sie alle Tage einen Feliler abzustellen. 
Nachdem das'Jahr herum war, gieng sie mit dem Kästchen zu dem 
Einsiedler und sagte vergnügt: „Alles geht nun besser. Laßt mir das 
Kästchen nur noch ein Jahr; es enthält ein gar treffliches Mittel." — Da 
lachte der Einsiedler und sprach: „Das Kästchen kann ich euch nicht lassen; 
das Mittel aber, das darinnen verborgen ist, sollt ihr haben." Er öffnete 
das Kästchen, und siehe, es war nichts darin, als ein weißes Papier, auf 
dem geschrieben stand: 
Du mutzt, soll's wohl im Haus- stehen, 
Auf Sparsamkeit und Ordnung sehen! 
Auerbacher. 
62. Der Frosch und die Maus. 
Eine Maus wäre gern über ein Wasser gewesen und könnte nicht und 
bat einen Frosch um Rath und Hülfe. Der Frosch war ein Schalk und 
sprach zur Maus: Binde deinen Fuß an meinen Fuß, so will ich schwimmen 
und dich hinüber ziehen. Da sic aber aufs Wasser kamen, tauchte der 
Frosch unter uud wollte die Maus ertränken. Indem aber die Maus sich 
wehret und arbeitet, fliegt eine Weihe daher und erhaschet die Maus, zieht 
aber auch den Frosch mit heraus und frißt sie beide. Siehe dich vor, 
mit wem du handelst! Die Welt ist falsch und der Untreue voll; denn 
welcher Freund den andern vermag, der steckt ihn in den Sack. Doch schlägt 
Untreue allzeit ihren eigenen Herrn, wie dem Frosch hier geschieht. 
Dr. M Luther »ach Äsop.
	        
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