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An jedem Abend stellte sie die Lampe ans Fenster und schaute Tag
und Nacht über die See hinaus, ob nicht der Bruder käme.
2. Es vergingen Monde, es vergingen Jahre, und noch immer
kam der Bruder nicht. Elxke ward zur Greisin. Immer sabß sie noch
am Fenster und schaute hinaus, und an jedem Abend stellte sie
die Lampe aus und wartete. Endlich war es bei ihr dunkel und
das gewohnte Licht erloschen. Da riefen die Nachbarn einander
zu: „Der Bruder ist gekommen“ und eilten ins Haus der Schwester.
Da saß sie da, tot und ssstarr ans Fenster gelehnt, als wenn sie noch
hinausblickte, und neben ihr stand die erloschene Lampe.
Karxl Müllenhoff. (Sagen, Märchen und Lieder usw.)
10. Die leine Schwester und der große
Bruder.
1. Eine meiner liebsten Kindheitserinnerungen ist die an
meine kleine Schwester. Licht und lieblich, freundlich und
schelmisch, so stelit sie vor mir in meinen Gedanken.
Ich war sechs und Bruder Anton sieben Janr alt, als wir
eines Tages mit der Nachricht überrascht wurden: Ihr habt ein
Schwesterchen bekommen.
Sogleich stürmten wir in die Schlafstube hinein, und da
lag ein winægiges, winaiges Schwesterchen in der WViege.
Mit großer Neugier untersuchten wir ihre ꝛarten Händechen
und das sleine Gesiehtehen; aber erst nach einigen Monaten
bekamen wir Augen dafür, wie süß sie war.
Bruder Anton liebte sie ꝛ2äürtlich. Er war es, der sie die
ersten Schritte gehen lehrte, der isir beibrachte, Mutter“ 2u
sagen, der erste, nach dem sie die Händchen ausstreckte, wenn
er zur Tür hereintrat.
Als sie ꝛuei Jalr alt war, da war sie buchstäblich Anton
sstets auf den Fersen, so schnell sie das auf irgend eine Weise
nur ausführen konnte. Ilir kleines Näschen drückte sie flach
an die Scheiben, um ihrem großen Bruder nachsehen au können,
wenn er aur Schule ging.
2. Ihres fünften Geburtstages hann ich mich deutlich er-
innern. Wir Jungen wateten durch knietiefen Schnee nach
Hause aus der Schule, heim ꝛum Schokoladenschmause au
Ehren der kleinen Schwester. Die sah heute aus wie ein kleiner