176
255. Das Faß des Diogenes.
Curtman.)
In Griechenland lebte ein weiser Mann, namens Diogenes der sich
aber allerlei Sonderbarkeiten angewöhnt hatte. Da er glaubte, der Mensch
sei desto glücklicher, je weniger er zum Leben nothwendig habe, so wohnte er
nicht in einem Hause, sondern in einem Fasse. Der König Alexander der
Große, welcher schon vieles von ihm gehört hatte und wohl sah, daß Diogenes
nicht zu ihm kommen würde, hielt es der Mühe werth, selbst hinzugehen
Und den Weisen zu besuchen. Als Diogenes den König mit seinem prächtigen
Gefolge auf sich zukommen sah, lag er gerade in seinem Fasse, um sich an
der Sonne zu wärmen. Der König dachte: Jetzt wird er doch aufstehen und
mir entgegenkommen. Aber Diogenes blieb liegen, als wenn ihm die Au⸗
kunft des Königs gar nichts besonderes schiene. Nachdem ihn der König
eine Weile betrachtet hatte, sprach er; „Diogenes, ich sehe, du wohnest schlecht
und bist schlecht gekleidet, du darfst dir etwas von mir ausbitten. Wenn es
möglich ist, soll es dir gewährt werden.“ Ich habe nichts nöthig,“ antwor⸗
lete der Weise willst du mir aber einen Gefallen thun, König Alexander,
so gehe mir ein wenig aus der Sonne.“ Da erkannte der König, daß er
einen Mann gefunden hatte, welcher weder Geld, noch schöne Kleider brauchte,
noch sonstige Herrlichkeiten begehrte, sondern mit wenigem zufrieden war, und
er lief aus: Wenn ich nicht Alexander wäre, so möchte ich Diogenes sein!“
256. Die köstlichsten Gewürze.
Schmid.)
Ein Prinz wurde auf einem Spaziergange von einem Platzregen über—
fallen und flüchtete sich in eine Bauernhütte hinein.
Die Kinder saßen eben bei Tische, und vor ihnen stand eine große
Schüssel mit Habermus. Alle ließen sichs recht gut schmecken und sahen da⸗
bei frisch und roth aus, wie die Rosen.
Da sprach der Prinz zu der Hausmutter: ‚Wie ist es doch möglich, daß
man eine solche rauhe Speise mit solcher Lust verzehren und dabei so gesund
und blühend aussehen kann?“
Die Mutter autwortete: „Das kommt von dreierlei Gewürzen her, mit
welchen ich die Speisen schmackhaft mache. Erstens lasse ich die Kinder ihr
Mittagessen durch Arbeit verdienen. Zweitens gebe ich ihnen außer der Tisch⸗
zeit nichts zu essen, damit sie Hunger mit zu Tische bringen. Drittens ge⸗—
wöhne ich sie zur Genügsamkeit, indem ich sie mit Leckerbissen und Näschereien
gar nicht bekannt mache.“
257. Legende vom Hufeisen.
Goethe.)
Als noch, verkannt und sehr gering, weil unter des Himmels Angesicht
unser Herr auf der Erde ging, immer besser und freier spricht.
und viele Jünger sich zu ihm fanden, Er ließ sie da die höchsten Lehren
die sehr selten sein Wort verstanden, aus seinem heiligen Munde hören;
liebt' er es gar über die Maßen, besonders durch Gleichnis und Exempel
seinen Hof zu halten auf der Straßen, macht er einen jeden Markt zum Tempel.