46
61. Wie die Vögel singen lernen.
Es war ein so schöner Maimorgen, als ich einmal ganz in der
Frühe durch den grünen Wald ging. Die Sonne war auch erst herauf-
gekommen, und schaute sich mit großen Augen darin um, dass die Thau-
tropfen auf den Blättern vor Freude blinkten und glitzerten, und überall
von den Zweigen guckten die Vögel herunter, badeten sich im frischen
Thau, und sangen mit heller Stimme ein Lied.
O, du mein Gott, dachte ich, wie's doch so schön ist auf deiner
Welt! — Und als ich weiter ging, bekam ich einen guten Tag über den
andern von den munteren Thierchen. Da fragte ich so ein lustiges Vö-
gelchen, das wacker mit geschrien hatte, von wem's denn in aller Welt
einen so köstlichen Gesang gelernt, bei welchem dem Wanderer vor Freu-
den das Herz hüpfe?
„ Ei, von meiner Mutter!“ wurde die Antwort gezwitschert
Die Mutter, die auf dem nächsten Zweige saß und meine Frage
gehört hatte, sagte freundlich: „Und ich hab's wieder von meiner Mutter,
aber das ist schon sehr lange her!" ~ „Und deine Mutter?!" — q„Von
der Großmutter; aber das ist schon eine Ewigkeit." Und weiter hinauf
wusste sie's gar nicht mehr. ~
Da war aber ein anderer Vogel, der schon vor Alter mit dem
Kopfe wackelte, und über alle Maßen klug und gelehrt aussah, der nahm
das Wort und bedeutete mich: „Als die Welt erschaffen war," sagte er
langsam und ein wenig schnarrend, ,„sangen alle unsere Vorfahren noch
recht so wie ihnen der Schnabel gewachsen war, Alles durch einander,
ohne Melodie und Harmonie, ohne Takt, krächzend, schnurrend, pfeifend
~ kurzum, ohne Sinn und Verstand. Sie freuten sich ganz außeror-
dentlich über die schöne Welt, die sie sahen, flogen auf und ab, von
Zweig zu Zweig, und schrieen aus voller Kehle, was sie nur konnten.
— Der liebe Herr Gott nun, der einem Jeden so gern eine Freude
macht, der hatte ihnen auch eine beschert. + Mit einmal, da klingt von
dem Rasen eine süße himmliche Musik zu ihnen herauf, dass sie alle
Eins um das Andere ganz entzückt die Beine heben, und als sie hinun-
tersehen, was sehen sie da? - Da saßen drei wunderliebliche Engels-
gestalten, die musicierten so schmelzend und herrlich, wie es seitdem nie
wieder ein Ohr vernommen hat. Nun gebt Acht, sprachen die drei En-
gel zu den Vögeln, jetzt wollen wir euch singen lehren!
Da setzten sich nun viele von den Vögeln ringsum auf die nächsten
Zweige oder noch näher auf den blumigen Rasen, horchten zu, was
jene ihnen vorsspielten, und versuchten es dann mit Hilfe ihrer freund-
lichen Lehrmeister nachzusingen.
Das thaten die Einen; aber gar manche leichtsinnige, flatterhafte
Bürschchen, denen die kleinste Mühe zu sc<wer wurde, schlugen die