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126. Der Hirsch, der sich im Wasser sieht.
Ein Hirsch bewunderte sein prächtiges Geweih
Am Spiegel einer klaren Quelle:
„Wie prächtig! auf derselben Stelle,
Wo Königskronen stehn! und wie so stolz, so frei!
Auch ist mein ganzer Leib vollkommen, nur allein
Die Beine nicht, die sollten stärker sein!"
Und als er sie besieht mit ernstlichem Gesicht,
Hört er im nahen Busch ein Jägerhorn erschallen,
Sieht eine Jagd von dem Gebirge fallen,
Erschrickt und flieht. Nun aber hilft ihm nicht
Das prächtige Geweih, dem nahen Tod entfliehn,
Nicht fein vollkommner Leib; die Beine retten ihn!
Die reißen, wie ein Pfeil, die prächtige Gestalt
Mit sich durchs weite Feld und fliegen in den Wald.
Hier aber halten ihn im vogelschnellen Laus
An starken Zweigen oft die vierzehn Enden auf.
Er reißt sich los und flucht darauf,
Lobt seine Beine nun und lernet noch im Fliehn,
Das Nützliche dem Schönen vorzuziehn.
Johann Wilhelm Ludwigs Gleim.
127. Die Hausmaus.
Die Maus hält sich in allen Teilen der menschlichen Woh¬
nung auf. Auf dem Lande haust sie auch im Freien, im Garten
oder den nächsten Feldern und Wäldchen. In der Stadt ver¬
läßt sie nicht das Wohnhaus und seine Nebengebäude. Hier
bietet ihr jede Ritze, jede Höhle, jeder Winkel ein Obdach.
Mit größter Schnelligkeit rennt sie auf dem Boden dahin;
sie klettert vortrefflich und springt ziemlich weit. Beim Klet¬
tern leistet ihr der Schwanz sehr gute Dienste; sie versteht
sich damit zu halten und zu unterstützen. Schwimmen kann
sie auch; aber sie geht nicht gern freiwillig ins Wasser. Ihre
Sinne sind vorzüglich: sie hört das leiseste Geräusch, riecht
scharf und auf weite Entfernung; sie sieht sehr gut, vielleicht
noch besser bei Nacht als bei Tage.