Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

2 Neudeutsche Literatur. 
Aufseher des Zeughauses sehr ernsthaft im Namen der löblichen Stadt Abdera, 
daß ein so herrliches Kunstwerk aus Kargheit der Natur unbrauchbar bleiben 
müsse. Ein andermal erhandelten sie eine sehr schöne Venus von Elfenbein, 
die man unter die Meisterstücke des Praxiteles zählte. Sie war ungefähr 
fünf Fuß hoch, und sollte auf einen Altar der Liebesgöttin gestellt werden. 
Als sie angelangt war, gerieth ganz Abdera in Entzücken über die Schönheit 
ihrer Venus; denn die Abderiten gaben sich für feine Kenner und schwär— 
merische Liebhaber der Künste aus. Sie ist zu schön, riefen sie einhellig, um 
an einem so niedrigen Platze zu stehen. Ein Meisterstück, das der Stadt so 
biel Ehre macht und so viel gekostet hat, kann nicht zu hoch aufgestellt werden; 
sie muß das erste sein, was den Fremden beim Eintritt in Abdera in die 
Augen fällt. Diesem glücklichen Gedanken zufolge stellten sie das kleine nied⸗ 
liche Bild auf einen Obelisk von achtzig Fuß; und wiewohl es nun unmöglich 
waͤr, zu erkennen, ob es eine Venus oder eine Wäschernymphe vorstellen sollte, 
so nöthigten sie doch alle Fremden, zu gestehen, daß man nichts Vollkom⸗ 
meneres sehen könnte. 
2. Wilh. Heinse. 
. 108. Lehrb. J. 848.) 
Genua. 
(Aus „Ardinghello“.) 
Ich machte, wie es Tag war, einen Spaziergang auf den Hügel, und 
besah die Lage von Genua: ein reizendes Theater, das von jeher seine Bewoh⸗ 
ner angetrieben hat, das Meer zu beherrschen; und woheraus immer die größten 
Seehelden hervorgekommen sind. Heiliger Columbus, und du, Andreas Doria, 
die ihr nun mit den Themistoklessen und Seipionen im Elysium Paar und Paar 
herumwandelt, euch Halbgötter unter den Menschen bet ich im Staube an. 
Ach, daß auch mir kein solches Loos bestimmt ist! Ich sah hinaus in die un⸗ 
ermeßliche Sphäre von Gewässern, und die ungeheure Majestät wollte mir die 
Brust zersprengen; mein Geist schwebte weit über der Mitte der Tiefen, und 
fühlte ganz in unaussprechlicher Wonne seine Unendlichkeit. 
Nichts auf der Welt füllt so stark und mächtig die Seele; das Meer 
ist doch das schonste, was wir hienieden haben. Sonn und Mond und Sterne 
sind dagegen nur einzelne glänzende Punkte, und sammt dem blauen Mantel 
hes Aethers darüber her nur eine Zierde der Wirklichkeit. Dieß ist das wahre 
Leben:; hierauf giebt sich der Mensch Flügel, die ihm die Natur versagt; und 
perbindet in sich die Vollkommenheit aller andern Geschöpfe. Wer das Meer 
nicht kennt, kömmt mir unter den Menschen wie ein Vogel vor, der nicht fliegen 
kann; oder seine Flügel nicht braucht, wie die Straußen, Hühner und Gänse. 
Hier ist die ewige Klarheit und Reinheit; und alles Kleine, was sich in den 
inkeln der Sladte in uns nistet, wird hier von den großen Massen weggescheucht. 
Die See ist hier doch etwas ganz anders als in euren Brentasümpfen! 
Die Sturme machen mir jeden Tag ein neues Schauspiel; und ich begreife 
nun, wie Columben der Muth im Herzen erwuchs, sich mit einer Bande Ge⸗ 
sindel in den unwirthbaren Ocean hinauszuwagen, gleich einem Gotte, der 
Wasserfluthen und Orkane kennt, und in ihr grausames wildes Spiel sich zu 
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