Neudeutsche Literatur.
3. Johann Kaspar Lavater.
( 93. Lehrb. 8. 845. 858)
1. Aus den physiognomischen Fragmenten.
Wer nicht sehr oft beim ersten Anblick einzelner Menschen, die sich ihm
nähern, um etwas von ihm zu erlangen, oder etwas mit ihm zu behandeln,
eine geheime Bewegung, Zu- oder Abneigung, Anziehung oder Widerstand
fühlt, der wird in seinem Leben nie Physiognomist werden.
Die Griechen hatten eine schönere Natur vor sich als wir, und sie
erreichten so wenig ihre schönere Natur in der Kunst, als die größten Künstler
unter uns die weniger schöne Natur erreichen, die sie vor sich haben. — —
Also waren die Griechen schönere Menschen, bessere Menschen! und das
jetzige Menschengeschlecht ist sehr gesunken!
„Aber jene Griechen waren ja blinde Heiden, und wir sind gläubige
Christen!⸗
— Ich möchte den schalen Kopf sehen, der etwas platteres sagen
könnte: Nicht dem der die Einwendung schalkhaft und nicht im Ernst macht;
sondern dem einfältigen geraden, wahrheitliebenden Menschensinn antworte
ich. Und — was? Das Christenthum wirkt wie sein Meister Christus! Es
gibt keine Augen dem der keine hat; sondern es erleuchtet die Augen des
Blinden. Es verschönert alles nur nach seiner innern, individuellen Ver—
schönbarkeit. Also können die blinden Heiden, ihrer Anlage nach, in An—
sehung ihrer Organisation und Bildung, nach dem unerforschlichen freien
Willen ihres Schöpfers, mit schönern Gestalten gewesen sein, als wir —
obgleich manche ihrer würdigsten Fähigkeiten, deren Entwickelung nur dem
Christenthum vorbehalten ist, in ihnen nicht entwickelt wurden. — Und dann,
guter Gott, ist viel von unserm Glauben und Christenthum das uns ver—
schönern soll zu preisen? — Ja wenn Schminke verschönerte! — Aus in—
wendigem Leben, innigst erregter sanfter, treffender Wirkungskraft — daher
quillt Veredlung, Salbung der Menschengestalt. — Und wie viel anders
war die in euch würdigen alten Heiden — die ihrem Lichte so viel redlicher
folgten — als wir, hocherleuchtete Söhne des achtzehnten Jahrhundetts
dem unsern.
Kurz und gut die hohe Schönheit der Kunstwerke der Alten ist ewiges
Monument ihrer schöneren Natur, die sie nicht übertroffen nicht einmal
erreicht hatten. — Der Künstler schafft nur so, wie jeder Mensch eine Sprache
schafft .· —
Brutus. Mann verschlossener That! langsam reifender, aus tausend
Eindrücken zusammen auf Einen Punkt gewirkter, auf Einen Punkt gedrängter
That. In dieser Stirne ist nichts Gedächtniß, nichts Urtheil, es ist ewig
gegenwärtiges, ewig wirkendes, nie ruhendes Leben, Drang und Weben.
Welche Fülle in den Wölbungen aller Theile! wie angespannt das Ganze!
Dieses Auge faßt den Baum bei der Wurzel. Ueber allen Ausdruck ist die
reine Selbstigkeit des Mannes. Beim ersten Anblick scheint was verderbendes
dir entgegen zu streben. Aber die treuherzige Verschlossenheit der Lippen, die
Wangen, das Auge selbst! — Groß ist der Mensch, in einer Welt von
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