Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

Neudeutsche Literatur— 
2. Moritz August von Thümmel. 
l. Lehrb. . 956) 
Aus der Reise in diemittäglichen Provinzenvon Frankreich. 
1. Das GElysium der Provence. 
Die Scheibe der Sonne, als wäre sie allein für dieses Thal geschaffen, 
hing, zu ihrem Untergang geneigt, gerade vor mir. Ein breiter, schäumender, 
in die Tiefe stürzender Wasserfall schien ihr anzuhängen, und die letzten Gold— 
massen ihrer heutigen Spende zu übernehmen, um sie in flimmernden Körnern 
über das Abendbrot dieser glücklichen Thalbewohner zu streuen. Die Spitzen 
der hohen Berge, Träger des blauen Baldachins, der über der Königin schwebte, 
rötheten sich in ihrem Abglanz, und der Schimmer ihres Heimgangs flog 
zitternd über die unzähligen Gärten und Lusthäuser, die sich von allen Seiten 
in den sanftesten Abhang hinunter zogen. Der mit ihrem wallenden Lichte 
überschwemmte Teppich grünender Triften, der sich, so weit der Blick reichen 
konnte, in dem Grunde verbreitete, warf mit den Gruppen ruhender Heerden 
in seiner unglaublich sanften Verschmelzung einen Widerschein in die Höhe, der 
selbst ein sterbendes Auge noch würde erquickt haben. O, könnte ich den rauhen 
schmalen Eingang dieses Berges für mehrere Seelen zu einer so edlen Absicht 
benutzen, als mein trefflicher Freund durch ihn bei mir einzelnem Kranken er— 
reicht hat! Ich würde seine dahinter ruhenden Geheimnisse durch ein vorge— 
zogenes Tuch so ganz versperren, wie sie es mir bis auf diesen Augenblick 
waren, und würde euch, meine Freunde und Bekannten, an einem Festtage 
auf einen Kreis von Rasenbänken um das Amphitheater dieser Steinmasse ver— 
sammeln, euch, die ihr Stunden lang in euren Schauspielhäusern auf Brettern 
sitzt und dem Zeichen entgegen lauscht, das den Vorhang heben soll, den ihr 
angähnt. Ach, wie wollte ich euch, indem ich den meinigen aufzöge, durch den 
Hinblick in diese heiligen Hallen der verklärten Natur erschüttern, und wenn 
ich mich durch ihn stärker, als es kein Bußprediger, kein Dichter vermag, eurer 
Herzen bemeistert hätte, euch auf demselben Wege, den das meinige nahm, zu— 
rück in euch selbst, in die Gegenden führen, die ihr so wenig besucht habt als 
diese — in die Tiefen, wo noch manches Große, Gute und Edle ungeweckt 
schlummert! Mit welchem Erstaunen würdet ihr bemerken, wie die beiden euch 
unbekannten Gebiete der natürlichen Zufriedenheit und des sittlichen Gefühls, 
die ihr durch Künsteleien getrennt habt, zu einem und demselben Reiche ge— 
hören! Ihr würdet innigst gerührt mein großes Schauspiel verlassen, würdet 
nur Ekel an dem Prunk eurer Opern, vorzüglich aber ein reines Herz, durch— 
drungen von der Wahrheit mit nach Hause nehmen, die wir zwar alle einge— 
stehen, in dem tollen Beginnen unseres Uebermuths aber täglich und stündlich 
vergessen — daß der Mensch mit allen Pfauenfedern seines Stolzes und seiner 
Talente nur ein armseliger Stümper in seinen Nachahmungen und Schilde— 
rungen der unerreichbaren Natur und ein undankbarer Schwächling gegen jenen 
fühlbaren und doch unbekannten Werkmeister sei, der die Sonne in seiner 
Gewalt hat und die Kräfte des Universums leitet, wohin er will. Doch ist 
es nicht schon eine strafbare Thorheit, das Staubkorn gegen den Unermeßlichen 
zu wägen, das er, ohne zu achten, wohin es flog, von dem Saume seines 
Kleides abließ, seines mit jenen Flittern, die wir Sonnensysteme, Sterne und 
leuchtende Welten nennen, besetzten ernsten ewigen Kleides? — 
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