Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

Deutsche Dichlkunst. 
Seit ältester Zeit tönt deutscher Gesang, und so oft im erneuernden Umschwung, 
In verjüngter Gestalt aufstrebte die Welt, klang auch ein germanisches Lied nach. 
Zwar lange verhallt ist jener Gesang, den einst des Arminius Heerschaar 
Anstimmend gejauchzt in des Siegs Festschritt, auf römischen Gräbern getanzt ihn! 
Doch blieb von der Zeit des gewaltigen Karls wohl noch ein gewaltiges Lied euch, 
Ein gewaltiges Lied von der mächtigen Frau, die erst als zarkeste Jungfrau 
Dasteht, und verschämt, voll schüchterner Huld, dem erhabenen Helden die 
Hand reicht, 
Bis dann sie zuletzt, durchs Leben gestählt, durch glühende Rache gehärtet, 
Graunvoll auftritt, in den Händen ein Schwert und das Haupt des enthaup— 
teten Bruders. 
Auch lispelt um euch der melodische Hauch aus späteren Tagen des Ruhms noch, 
Als mächtigen Gangs zu des Heilands Gruft die gepanzerten Friedriche wallten; 
An den Höfen erscholl der Gesang damals aus fürstlichem Mund, und der Kaiser, 
Dem als Mitgift die Gestade Homers darbrachte die Tochter des Normanns, 
Sang lieblichen Ton. Kaum aber erlosch sein Stamm in dem herrlichen Knaben, 
Der, unter dem Beil hinsterbend, erlag kapetingischer teuflischer Unthat, 
Schwieg auch der Gesang, und die göttliche Kunst fiel unter die Meister des 
Handwerks! 
Spät wieder erhub sie die heilige Kraft als neue befruchtende Regung 
Weit über die Welt, aus Deutschlands Gau'n, der begeisterte sächsische Mönch trug; 
Doch strebte sie nun langsamer empor, weil blutiger Kriege Verderbniß 
Das entvölkerte Reich, Jahrhundert lang, preisgab der unendlichen Rohheit; 
Weil Wechsel des Lauts erst hemmte das Lied, da der bibelentfaltende Luther 
Durch männlichern Ton auf immer vertrieb die melodische rheinische Mundart. 
Doch sollte das Wort um so reicher erblühn, und es lehrte zugleich es Melanchthon 
Den gediegenen Klang, den einst anschlug die beglücktere Muse von Hellas. 
Und so reifte heran die germanische Kunst, um entgegen zu gehn der Vollendung. 
Lang schlich sie dahin, lang schleppte sie noch nachahmende Fessel und seufzte, 
Bis Klopstock naht und die Welt fortreißt in erhabener Odenbeflüglung,
	        
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