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worden. Er hat den Romanismus, den Einfluß der Franzosen, gebrochen und
Gottsched vernichtet. Ihm ist für die Fabel Aesop, für die Tragödie Sophokles, für
das Epos Homer das mustergiltige Vorbild; er hat uns wieder das Verständnis des
echten Aristoteles erschlossen; mit ihm beginnt eine neue Periode der wissenschaftlichen
biblischen Forschungen. — Im „Laokoon“ hat er seine Behauptungen über das Ver—
hältnis zwischen Malerei und Dichtkunst größtenteils mit Stellen aus Homer begründet
und bewiesen. Wie groß aber die Wirkung des „Laokoon“ war, muß man in Goethes
„Wahrheit und Dichtung“ nachlesen; da heißt es: „Wie von einem Blitz erleuchteten
sich alle Folgen dieses herrlichen Gedankens, alle bisherige anleitende und arbeitende
Hritik ward wie ein abgetragener Rock weggeworfen, wir hielten uns von allem Uebel
erlösr
Bürger, Stolberg, Voß: Man kam zu der Erkenntnis von der Notwendigkeit
einer guten deutschen Uebersetzung der homerischen Gedichte. G. A. Bürger gab zuerst
1771 einige Proben in fünffüßigen Jamben heraus. — Der Graf Friedrich Leopold
von Stolberg übersetzte die Ilias in Hexametern; ihm folgte Johann Heinrich Voß,
der zuerst die Odyssee, später auch die Ilias übersetzte.
Herder, Goethe: Das bekannte Schlagwort des 18. Jahrhunderts „Rückkehr
zur Natur“ hat in unserer deutschen Literatur und Kunst ganz besondere Wirkungen
gehabt. Es erwachte das Interesse für die Kindheitsepochen der Menschheit und für
das Leben der Volksseele; man sah in Homer und in der Bibel ursprüngliche Offen⸗
barungen des Menschengeistes. Besonders Herder forschte nach dem Volkstümlichen in
der Poesie; er hat uns den Born der Volkspoesie erschlossen.
Herders Ideen fielen während seines Straßburger Aufenthaltes bei dem jungen
Goethe auf fruchtbarsten Boden. Das zeigt sich vor allem in der Lyrik: die deutschen
Lyriker vor Goethe krankten, bei allem edlen Streben, doch an einer inneren Unwahr—
heit. Ihre Lieder waren Erzeugnisse der Studierstube, sie ahmten Horaz und den
unechten Anakreon nach; wir finden bei ihnen Phrasen, gemachte Gefühle, erfundene
Liebhaber, erfundene Geliebte. Von ihnen gelten die Verse:
„Ich träumte stets in Rosenlauben
Und ward am Schreibetische wach.
Ich träumte Most aus Hochheims Trauben,
Und schöpfte meinen aus dem Bach.“
Erst bei Goethe finden wir Wahrheit und lebendige Schönheit; seine Lieder find Aus—
druck echtesten Gefühls.
Sein ganzes langes Leben hindurch hat Goethe immerfort das größte Interesse
für den alten Homer bekundet. Wir können das bis zu seinem Tod verfolgen; be—
sonders aber sind es drei Lebensabschnitte, in denen seine Beschäftigung mit Homer
hervortritt:
1) Der Aufenthalt in Wetzlar (1772): Goethe zeichnet sich selbst und seinen da—
maligen Seelenzustand in der Person Werthers, der fast ständig von seinem Homer
begleitet ist; durch das ganze Werk „Werthers Leiden“ gehen die Beziehungen auf
Homer. Erst gegen Ende, wo die Schwermut Werther übermannt, wird Homer von
Ossian verdrängt.
2) Die italienische Reise (1786 -1788): In welchem Maße die Alten und besonders
Homer unserem Dichter nahegetreten sind, geht aus seinem Tagebuch und zahlreichen
Briefen hervor.
3) Durch die Freundschaft mit Schiller (1794 -1805) wurde Goethe zu neuer,
fruchtbarer, dichterischer Tätigkeit angeregt. Von großer Bedeutung war auch sein