Full text: Sammlung deutscher Gedichte für Schule und Haus

Balladen, Romanzen. 
19. Und Erstaunen ergreifet das Volk umher, 
In den Armen liegen sich beide, 
Und weinen vor Schmerzen und Freude. 
Da sieht man kein Auge thränenleer 
Und zum Könige bringt man die Wundermär; 
Der fühlt ein menschliches Rühren, 
Läßt schnell vor den Thron sie führen. 
20. Und blicket sie lange verwundert an. 
Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen, 
Ihr habt das Herz mir bezwungen; 
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn, 
So nehmet auch mich zum Genossen an: 
Ich sei, gewährt mir die Bitte, 
In eurem Bunde der Dritte.“ 
hchiller. 
162. Das verschleierte Bild zu Sais. 
Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst 
Nach Sais in Aegypten trieb, der Priester 
Geheime Weisheit zu erlernen, hatte 
Schon manchen Grad mit schnellem Geist durcheilt; 
Stets riß ihn seine Forschbegierde weiter, 
Und kaum besänftigte der Hierophant 
Den ungeduldig Strebenden. „Was hab' ich, 
Wenn ich nicht alles habe?“ sprach der Jüngling. 
„Gibt's etwa hier ein Weniger und Mehr? 
1 Ist deine Wahrheit wie der Sinne Glück 
Nur eine Summe, die man größer, kleiner 
Besitzen kann und immer doch besitzt? 
Ist sie nicht eine einz'ge, ungetheilte? 
Nimm einen Ton aus einer Harmonie, 
15 Nimm eine Farbe aus dem Regenbogen, 
Und alles, was dir bleibt, ist nichts, so lang 
Das schöne All der Töne fehlt und Farben.“ 
Indem sie einst so sprachen, standen sie 
In einer einsamen Rotonde still, 
20 Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße 
Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert 
Blickt er den Führer an und spricht: „Was ist's, 
Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?“ 
„Die Wahrheit,“ ist die Antwort — „Wie?“ ruft jener, 
25 „Nach Wahrheit streb' ich ja allein, und diese 
Gerade ist es, die man mir verhüllt?“ 
Wendt, Sammlung deuntscher Gedichte. 
129
	        
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