Full text: [Theil 2 = Mittel- und Oberstufe, [Schülerband]] (Theil 2 = Mittel- und Oberstufe, [Schülerband])

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311. Führe uns nicht in Versuchung. 
Reinick. 
Im nächsten Städtchen gab es Kirchweih!) und Jahrmarkt; deshalb 
waren alle Leute aus dem Dorfe dorthin gezogen, um einzukaufen, lustig zu 
sein und zu tanzen. So war es denn am Abende gar still im Orte, kein 
Mensch war zu sehen, noch zu hören. Der Brunnen, an dem sonst um diese 
Zeit die Mädchen beim Wasserholen plauderten und lachten, streckte seinen 
langen Balken neugierig in die Luft, als wollte er fragen: Kommt denn 
heule niemand her, mein Wasser zu holen? Unter der großen Linde, wo 
an anderen Abenden die jungen Bursche saßen und ihre Lieder sangen, regte 
sich heut kein Grashälmchen, und nur oben im Baume pfiff ein Vögelchen 
sein Abendlied. Selbst der alte Baumstamm, worauf die Kinder zu spielen 10 
und herumzuklettern pflegten, lag verlassen und leer da, und nur wenige 
Ameisen, die sich bei der Arbeit verspätet hatten, krochen darauf noch hin 
und her, um sich ihr Abendbrot zu holen. 
Allmählich kam die Dämmerung herauf; es wurde immer dunkler und 
stiller, und nachdem die lauten lustigen Vögel in ihre Nester gekrochen waren, 15 
schlüpften die häßlichen Fledermäuse hervor und schwirrten und huschten durch 
die Abendluft — 
Da kam um die Ecke der Scheune ein Mann daher. Er schlich leise 
und ängstlich immer die Mauer entlang, wo es am dunkelsten war. Dabei 
sah er sich scheu nach allen Seiten um, ob auch ein Mensch da wäre, der ? 
ihn bemerken könnte. Als er sich aber ganz sicher glaubte, kletterte er auf 
die Mauer, kroch dort auf allen Vieren wie eine Katze weiter bis an eine 
Stelle, wo die Mauer ans Haus stieß, und schwang sich dann in ein Fenster 
des Hauses hinein, das gerade offen stand. 
Der Mann aber hatte recht böse Dinge im Sinne, denn er war ein 2 
Dieb und gedachte die Leute, die in dem Hause wohnten, zu bestehlen. 
Nachdem er durch das Fenster hineingekrochen war, befand er sich in 
einer leeren Kammer, dicht daneben war die Wohnstube der Hausbewohner; 
eine Thür, die dort hineinführte, war nicht geschlossen, sondern nur leicht 
angelehnt. 30 
Der Dieb wußte wohl, daß die Leute ebenfalls auf den Jahrmarkt ge— 
gangen waren, doch dachte er, es könnte vielleicht zufällig jemand in die Stube 
gekommen sein, legte daher das Ohr an die Thürspalte und horchte. 
Drinnen hörtle er ein Kind laut sprechen, und als er durchs Schlüssel— 
loch guckte, sah er beim Dämmerscheine, daß es ganz allein mit gefalteten 35 
Händen in seinem Bettchen saß; — das Kind betete, wie es immer vor 
Schlafengehen that, laut sein Vaterunser. — 
Schon sann der Mann darüber nach, wie er dennoch seinen Diebstahl 
am besten ausführen möchte, da hörte er, wie das Kind mit lauter, klarer 
Stimme eben die Worte betete: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern 10 
erlöse uns von dem Übel!“ 
Das ging dem Manne tief zu Herzen, und sein Gewissen erwachte. 
M) Die Kirchweihe, ein jährliches Fest mit Musik und Tanz, welches an die Ein— 
weihung einer Kirche erinnern soll.
	        
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