fullscreen: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

372 Neudeutsche Literatur. 
Natur kärglich ihre Gaben spendet, schärft sie den Sinn des Menschen, daß 
er auf jeden Wechsel im bewegten Luftkreise wie in den Wolkenschichten lauscht, 
daß er in der Einsamkeit der starren Wüste wie in der des wellenschlagenden 
Oceans jedem Wechsel der Erscheinungen bis zu seinen Vorboten nachspürt. 
Das Klima ist besonders in dem dürren und felsigen Theile von Palästina 
geeignet, solche Beobachtungen anzuregen. Auch an Mannigfaltigkeit der Form 
fehlt es der dichterischen Literatur der Hebräer nicht. Während von Josua 
bis Samuel die Poesie eine kriegerische Begeisterung athmet, bietet das kleine 
Buch der ährenlesenden Ruth ein Naturgemälde dar von der reinsten Ein— 
fachheit und von unaussprechlichem Reize. 
2 Des Columbus und Camoens Schilderungen der Natur. 
Werfen wir noch einmal den Blick zurück in die Zeit der großen Ent— 
deckungen, so müssen wir vor allem der Naturschilderungen gedenken, die wir 
von Columbus selbst besitzen. „Die Anmuth dieses neuen Landes,“ sagt der 
Entdecker, „steht hoch über der eampinna de Oordoba. Alle Bäume glänzen 
von immergrünem Laube — sind ewig mit Früchten beladen. Auf dem 
Boden stehn die Kräuter hoch und blühend. Die Lüfte sind lau wie im April 
in Castilien; es singt die Nachtigall süßer, als man es beschreiben kann. Bei 
Nacht singen wieder süß andere, kleinere Vögel, auch höre ich unsern Gras— 
hüpfer und die Frösche. Einmal kam ich in eine tief eingeschlossene Hafenbucht 
und sah, was kein Auge gesehen: hohes Gebirge, von dem lieblich die Wasser 
herabströmen. Das Gebirge war bedeckt mit Tannen und andern vielfach ge— 
ftalteten, mit schönen Blüthen geschmückten Bäumen. Den Strom hinauf— 
steuernd, der in die Bucht mündete, war ich erstaunt über die kühlen Schatten, 
die krystallklaren Wasser und die Zahl der Singvögel. Es war mir als möchte 
ich so einen Ort nie verlassen, als könnten tausend Zungen dies alles nicht 
wieder geben, als weigere sich die verzauberte Hand, es niederzuschreiben.“ 
Wir lernen hier aus dem Tagebuche eines litterarisch ganz ungebildeten 
Seemannes, welche Macht die Schönheit der Natur in ihrer individuellen Ge— 
staltung auf ein empfängliches Gemüth auszuüben vermag. 
Jene individuelle Naturwahrheit, die aus eigner Anschauung entspringt, 
glänzt im reichsten Maaße in dem großen National-Epos der portugiesischen 
Litteratur. Es weht wie ein indischer Blüthenduft durch das ganze unter dem 
Tropen⸗Himmel geschriebene Gedicht. Mir geziemt es nicht, einen kühnen 
Ausspruch Friedrich Schlegels zu bekräftigen, nach welchem die Lusiaden des 
Camoens „an Farbe und Fülle der Phantasie den Ariost bei weitem über— 
treffen.“ Aber als Naturbeobachter darf ich wohl hinzufügen, daß in den 
beschreibenden Theilen der Lusiaden nie die Begeisterung des Dichters, der 
Schmuck der Rede und die süßen Laute der Schwermuth der Genauigkeit in 
der Darstellung physischer Erscheinungen hinderlich werden. Sie haben viel— 
mehr, wie dies immer der Fall ist, wenn die Kunst aus ungetrübter Quelle 
schöpft, den belebenden Eindruck der Größe und Wahrheit der Naturbilder er— 
höht. Unnachahmlich sind in Camoens die Schilderungen des ewigen Ver— 
kehrs zwischen Luft und Meer, zwischen der vielfach gestalteten Wolkendede, 
ihren meteorologischen Processen und den verschiedenen Zuständen der Ober— 
fläche des Dceans. Er zeigt uns diese Oberfläche, bald wenn milde Winde 
sie kräuseln und die kurzen Wellen im Spiel des zurückgeworfenen Lichtstrahls 
funkelnd leuchten, bald wenn Coelho's und Paul de Gamo's Schiffe in einem
	        
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