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die Königin, die eben heimgekommen und in den. Saal getreten waren,
sanken nieder und schliefen ein und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da
schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf
dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde
flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln,
und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den
Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich,
und auf den Bäumen vor dem Schloß regte sich kein Blättchen mehr.
Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die
jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß umzog und darüber
hinauswuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne
auf dem Dach. Es gicng aber die Sage in dem Land von dem schönen,
schkafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt, also daß
von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloß
dringen wollten. Es war aber alle Mühe vergeblich, denn die Dornen,
als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben
darin hängen, konnten sich nicht wieder los machen und starben eines jämmer¬
lichen Todes. Rach langen, langen Jahren kam wieder einmal ein Königs¬
sohn in das Land und hörte, wie ein alter Mann von der Dornenhecke
erzählte, es sollte ein Schloß dahinter stehen, in welchem eine wunderschöne
Königstochter, Dornröschen genannt, schon seit hundert Jahren schliefe, und
mit ihr schliefe der König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er
wußte auch von feinem Großvater, daß schon viele Königssöhnc gekommen
wären und versucht hätten, durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie
wären darin hängen geblieben und eines traurigen Todes gestorben. Da
sprach der Jüngling: „Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und daS
schöne Dornröschen sehen." Der gute Alte ricth ihm ab, aber er hörte
nicht auf seine Worte.
Nun waren gerade die hundert Jahren verflossen, und der Tag war
gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Königssohn
sich der Hecke näherte, waren es lauter große, schöne Blumen, die thaten
sich von selbst aus einander und ließen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter
ihm thaten sie sich wieder als eine Hecke zusammen. Im Schlvßhof sah
er die Pferde und die scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen; auf dem
Dache saßen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt.
Und als er ins Hans kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch
in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den Jungen anpacken, und
die Magd saß vor dem schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden. Da
gieng er weiter und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen,
und oben bei dem Throne lag der König und die Königin. Da gicng er
noch weiter, und alles war so still, daß einer seinen Athem hören konnte,
und endlich kam er zu dem Turm und öffnete die Thür zu der kleinen
Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag cs und war so schön, daß
er die Augen nicht abwenden konnte, und er konnte es auch nicht lassen,
bückte sich und gab ihn, einen Kuß. Kaum hatte er es mit dem Kuß be¬
rührt, so schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte und blickte ihn ganz
freundlich an. Da gicngen sie zusammen herab, und der König erwachte
und die Königin und der ganze Hofstaat und sahen einander mit großen