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Um geradlinige Starrheit zu vermeiden, haben damit die Bau-
künstler hierbei von einem neugefundenen Kunstmittel geradezu
meisterhaft Gebrauch gemacht. Die Säulen waren durch Gitter-
werk mit einander verbunden. An Stirn- und Rückseite zieht sich
hinter den Außensäulen eine zweite Säulenstellung, sodaß sich
beiderseits eine geräumige sechssäulige Vorhalle ausbreitet.
Zu den Säulen wie zu allen übrigen Teilen des Bauwerkes
ist als Gestein der blendend weiße Marmor verwandt worden, wie
er in den Brüchen des in der Landschaft Attika gelegenen Gebirges
Pentelikon gewonnen wurde. Es ist der Parthenon der erste Hoch-
bau Athens gewesen, welcher ganz aus edlem Marmor aufgeführt
wurde, im Gegensatz zu der früheren Weise, die das geringere Ge-
stein unter täuschendem Stuck zu verbergen pflegte. Auch sollte auf
des Perikles Anordnung nur attisches Gestein, pentelischer Marmor
nämlich, verwandt werden. Doch wurde zu den auf hölzernem
Sparrenwerk liegenden Dachziegeln Marmor von der Jnfel Paros
gewählt, weil der parische Marmor, zu dünnen Ziegelplatten zer-
schnitten, mehr Licht durchließ als pentelischer Marmor gleicher
Stärke.
Von der nach Osten gerichteten Stirnseite führte eine 10 m
hohe erzgegossene Flügelthür in das Innere des Tempels. Der
Jnnenranm gliederte sich baulich in zwei Abteilungen. Die erste,
eine 100 Fuß tiefe Tempelhalle — nach der Längenausdehnung:
„Hekatompedon" genannt — war durch eine doppelte Säulenreihe
in drei Schiffe geteilt. Die Säulen trugen die steinerne Decke,
welche in der Mitte in Oberlichtform durchbrochen war, um dem
Tempelraum Beleuchtung zuzuführen. Im Mittelschiff dieser Halle
stand das von des Pheidias Meisterhand geschaffene Bild der Stadt-
göttin Athene, welche als Siegesbringerin die goldene Siegesgöttin
auf der vorgehaltenen Rechten trug. Die ungewöhnlichen Maß-
Verhältnisse des 14 m hohen Standbildes; das mit künstlerischen
Darstellungen gleichsam wie mit Stickereien durchwebte Gewand aus
reinem Gold; die an Athens Vorgeschichte erinnernden Bildwerke
auf den Waffenstücken der kriegerisch gerüsteten Herrin der Stadtburg;
die aus blendendem Elfenbein gemeißelten und mit prächtigster
Schmelzarbeit verzierten Fleischteile der Gestalt; die packende Wahr-
heit, mit welcher der Künstler in den Zügen des Antlitzes das Gött-
liche versinnbildet hatte: alles dies mußte auf den gläubigen Beter
überwältigend wirken. Durch den Anblick der vierzig andern Stand-
bilder von höchster Kunstvollendung, welche, menschliche Größe weit
überragend, die Säulennischen zierten, fühlte sich der Grieche mitten
in seine Götterwelt versetzt und zu ehrfurchtsvoller Andacht gestimmt.