Full text: Deutsche Geschichte bis zum Ausgange des Dreißigjährigen Krieges (Bd. 1)

1. Die Urzeit Deutschlands. 
Von Karl Lamprecht.' 
Deutsche Geschichte. Berlin, Gaertner. 3. Aufl. 1902. 1. Bd. S. 37. 
Über jene Zeiten hinaus, welche Pofeidonios^ schildert, Pytheas^ 
andeutet, führt keine schriftliche Quelle in die Werdezeit unseres Volkes. 
Gleichwohl ist es der Forschung der Gegenwart möglich, auf dem Wege 
mittelbarer Schlüsse weiter zu gelangen. Wo der Mund des Geschicht- 
schreibers verstummt, da öffnen sich die Gräber und reden, und die Wissen- 
schaft der PräHistorie ^ entnimmt ihrem Inhalt eine Fülle sicherer Kenntnis. 
Vermißt man dabei den ethnographischen * Hinweis auf ein bestimmtes Volk, 
so springt die vergleichende Sprachforschung ein; sie ergibt zugleich eine 
Reihe vorsichtig zu verwertender Teilvorstellungen über die sozialen und 
geistigen Kennzeichen frühester Kultur. Das gegenseitige Verhältnis dieser, 
wie die Wahrheit des Gesamtbildes zu prüfen, ist Sache der vergleichenden 
Völkerkunde. So fügt sich in den Rahmen prähistorischer Anschauungen 
über Stufenfolge und äußere Bedingtheit der einzelnen Zeitalter ethnologische 3 
und tiefere kulturgeschichtliche Kenntnis. 
Auf vorgeschichtlichem Gebiete spricht man gern von einer Knochen- 
und Steinzeit, einer Kupfer- und Bronzezeit, einem Zeitalter des Eisens. 
Die Reihe der Zeitalter pflegt dabei als unverbrüchlich, als Stufenfolge 
einer von jeder Nation zu durchlaufenden Elementarbildung der Kultur zu 
gelten. Das ist eine falsche Vorstellung, welche sich sonst schätzenswerten 
Begriffen eingefügt hat. Nicht die Ausnahme eines bestimmten Stoffes, des 
Flintsteines oder eines Metalles, zur Herstellung von Werkzeug und Waffe 
entscheidet ohne weiteres über die Kulturhöhe eines Zeitalters; eine reichere 
Geistesbildung vermag sich wohl mit dem Gebrauch steinernen Gerätes zu 
vertragen. Noch viel weniger beweisen läßt sich die Behauptung vom regel- 
mäßigen Aufstreben jedes Volkes durch eine Steinzeit zu den Metallzeiten. 
1 Karl Lamprecht, geboren 1856 in Jessen bei Wittenberg, ist seit 1891 Pro¬ 
fessor der Geschichte an der Universität zu Leipzig. Seine auf zwölf Bände berechnete 
„Deutsche Geschichte" „bringt neben der politischen Entwicklung auch die Entfaltung der 
wirtschaftlichen Zustände und des geistigen Lebens zur Darstellung". — „Deutsches Wirtschafts¬ 
leben im Mittelalter." Leipzig 1886. „Zur jüngsten deutschen Vergangenheit." Freiburg 
i. Br.. Heyfelder. 1902. 
2 Poseidouios. ein griechischer Philosoph, lebte um die Zeit 135 bis 50 v. Chr.; 
von ihm stammt die älteste auf uns gekommene Schilderung unseres Vaterlandes, und 
zwar des östlichen Deutschland. 
s Pytheas. ein griechischer Seefahrer und Geograph aus Marseille, drang um 
330 v. Chr. bis zu den germanischen Nordseeküsten vor. 
4 Prähistorie = Vorgeschichte. 
5 Ethnographie — Völkerbeschreibung; Ethnologie — Völkerkunde. 
Atzler, Quellenstoffe u. Sefeftilcte. I. 1
	        
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