§ 105. Kaiser Wilhelm II.
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vergebens suchte der hohe Kranke Heilung in Ems, England, Tirol
und endlich in San Remo; bald versagte ihm die Stimme gänzlich. Wie
lange hatte er sich gewissenhaft auf seinen hohen Beruf vorbereitet, jetzt,
da ihm die Doppelkrone zufiel, stand er bereits mit einem Fuße im Grabe!
Sofort nach Empfang der Nachricht vom Hinscheiden seines teuren
Vaters eilte er von dem sonnigen Süden nach dem noch winterlichen
Norden.* Wohl selten hat ein Volk mit mehr Liebe und Vertrauen zu
seinem neuen Herrscher emporgeschaut, als das deutsche zu Kaiser
Friedrich. Aber seine kurze Regierungszeit war nur ein ununter¬
brochenes, jedoch geduldig ertragenes Leiden. „Furchtlos
harrlich!" diesem seinem Wahlspruche ist Kaiser FrrMrH""treu geblieben,
sowohl" rm Gewühl der Schlacht wie auch auf seinem Schmerzenslager.
Beim Erwachen des Frühlings schienen sich die Kräfte des Kaisers noch
einmal zu beleben. Der hohe.Kranke konnte noch zweimal Berlin auf¬
suchen, bei der Vermählung des Prinzen Heinrich wenigstens der kirchlichen
Trauung beiwohnen und sogar nach seinem Lieblingssitze, dem Neuen
Palais bei Potsdam, übersiedeln. Aber bald darauf trat eine Verschlim¬
merung ein, und am 15. Juni hatte der königliche Dulder ausgeruugen. /f 5*
Am 18. Juni, dem Jahrestag von Fehrbellin und Belle-Alliance, wurde
die irdische Hülle des Heimgegangenen, der seinem Volke ein Friedensfürst
zu werden gehofft hatte, in der Friedenskirche zu Potsdam, in der auch
die beiden ihm vorausgegangenen Sö^ne"Mgisnmnd und Waldemar ihre
Ruhestätte gefunden haben, feierlich betgesetzt."”""
„Nur wenige Monate", so sprach Kaiser Wilhelm II. zu dem
versammelten Landtage, „hat das Zepter in Meines dahin¬
geschiedenen Vaters Hand geruht, aber lange genug, um zu
erkennen, welchen Herrscher das Vaterland in ihm verloren
hat. Die Hoheit Seiner Erscheinung, der Adel Seiner Ge¬
sinnung, Sein ruhmvoller Anteil an den großen Geschicken
des Vaterlandes und der Heldenmut christlicher Ergebung,
mit dem Er gegen die Todeskrankheit kämpfte, haben Ihm
im Herzen Seines Volkes ein unvergängliches Denkmal
gesetzt." Die Kaiserin Friedrich entschlief am 5. August 1901; sie ruht
ebenfalls in der Friedenskirche.
§ 105. Kaiser Wilhelm II.; seit 15. Juni 1888.
1. Jugend und Vermählung.
Früher, als Menschen ahnen konnten, wurde Wilhelm II., geboren
am 27. Januar 1859 als der älteste Sohn Kaiser Friedrichs III., auf
den Thron Preußens und des Deutschen Reiches berufen. Die Jugend
Hoffmeyer u. Hering, Lehrbuch f. d. Geschichtsunt. II. Teil. 3. Aufl. ZI