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einem Kaiserreich. Während die Kanonen donnerten, hatte im Haupt—
quartier des preußischen Königs zu Versailles der Kanzler des Nord—
deutschen Bundes mit den Bevollmächtigten der deutschen Südstaaten die
Verträge geschlossen, durch die alle deutschen Staaten unter Führung
Preußens zu einem einzigen Reiche verbunden wurden.
Der deutsche Kaisertitel fehlte noch. Am 3. Dezember ersuchte der
Bayernkönig Ludwig II. im Namen der deutschen Fürsten den König von
Preußen, die Herrschaft über Deutschland unter dem Titel eines „Deutschen
Kaisers“ auszuüben. Der Norddeutsche Bundesrat beschloß, die Verfassung
10 dahin zu ändern, daß der Bund fortan den Namen „Deutsches Reich“
und der König von Preußen den Titel „Deutscher Kaiser“ führe. Auch
im Volke selber, am meisten im Süden, legte man auf den ehrwürdigen
Kaisernamen großen Wert. Nachdem der Reichstag des Norddeutschen
Bundes die Verträge mit den Südstaaten genehmigt hatte, richtete er
1s eine Adresse an den König, in der er ihn bat, die deutsche Kaiserkrone
anzunehmen. Wilhelm J. erfüllte den allgemeinen Wunsch, er nahm für
sich und seine Nachfolger in der Krone Preußens die deutsche Kaiser⸗
würde an und bestimmte, daß die Verkündigung des preußisch-deutschen
Kaisertums am Jahrestag der Erhebung Preußens zum Königreich statt—
20 finden solle.
In dem prächtigen Schlosse Ludwigs XIV. zu Versailles, jenes über—
mütigen französischen Königs, dessen ganzes Sinnen und Trachten auf
Deutschlands Zersplitterung und Erniedrigung gerichtet gewesen, ging diese
bedeutungsvolle Feierlichkeit vor sich.
In der berühmten großen Spiegelhalle des Schlosses war ein be—
scheidener Altar errichtet, vor ihm stand ein preußischer Geistlicher im
einfachen, schmucklosen Anzug. Ihm gegenüber hatten der König, der
Kronprinz und viele fürstliche Gäste Platz genommen. Bismarä und
Moltke standen in der Nähe des Königs.
Ein Sängerchor aus Soldaten leitete die kirchliche Feier durch das
Lied „Jauchzet dem Herrn alle Welt!“ mit Posaunenbegleitung ein und
sang die Liturgie. Dann folgte die Predigt des Hofpredigers Rogge
aus Potsdam über Psalm 21: „Du überschüttest ihn mit gutem Segen,
du setzest eine goldene Krone auf sein Haupt, du setzest ihn zum Segen
s85 ewiglich. Denn der König hofft auf den Herrn und wird durch die
Güte des Höchsten fest bleiben. Sie gedachten dir Übles zu tun und
machten Anschläge, die sie nicht konnten ausführen.“ Mit dem Choral:
„Nun danket alle Gott!“ und dem Segen schloß die kirchliche Feier—
Dann erhob sich der König und schri?“, während ihm alle Prinzen
10 und Fürsten und Bismarck folgten, auf die Erhöhung zu, auf der sich
die Fahnenträger befanden. Zu seiner Rechten sland der Kronprinz, die
Fürsten standen weiter zurück. Mit bewegler Stimme sagte der König,
daß ihm die Kaiserkrone von allen deutschen Fürsten und freien Reichs—
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