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und erzählte seiner Frau alles. Da die Frau das starke und schöne
Kind betrachtete, bat sie weinend ihren Mann, es nicht auszusetzen.
Er aber sagte, es würden Kundschafter von Harpägus kommen, und
er müsse des schmählichsten Todes sterben, wenn er nicht täte, ' wie
ihm befohlen sei. Da sprach die Frau: „Siehe, unser eigenes kleines
Kind ist eben gestorben. So nimm denn dieses und setze es aus; des
Königs Tochterkind aber wollen wir aufziehen, als wäre es unser
eigen." Dem Hirten dünkte dies gut geraten, und er tat so.
4. Myages findet seinen Enkel wieder. Der Enkel des
Astyäges wuchs heran und ward ein schöner Knabe, der an Verstand
und Mut alle seine Gefährten übertraf. Als er zwölf Jahre alt war,
machten sie ihn im Spiele zu ihrem König. Da wollte einer unter
ihnen, eines vornehmen Mannes Sohn, seinen Befehlen nicht ge¬
horchen. Der kleine König ließ ihn vor sich führen und züchtigte ihn
mit derben Schlägen. Der Knabe lief weinend zu seinem Vater; der
aber ging zum Könige und klagte. Da ließ der König den Hirten samt
seinem Sohne vor sich kommen. „Wie hast du wagen können," sprach
er zu dem Knaben, „den Sohn eines Mannes, der bei mir in hohen
Ehren steht, also schnöde zu behandeln?" Der Knabe antwortete:
„Herr König, dem ist nichts als sein Recht geschehen. Die Knaben im
Dorfe hatten mich beim Spiele zum Könige gewählt, weil sie meinten,
ich schicke mich am besten dazu. Die andern taten, was ich besohlen
hatte; der aber war ungehorsam. Dafür hat er seinen Lohn empfangen.
Hab' ich darum Strafe verdient, hier bin ich, strafe mich!" Als der
Knabe so sprach, verwunderte sich Astyäges seines edlen Anstandes,
und da er ihn schärfer betrachtete, fiel ihm plötzlich auf, daß er seiner
Tochter sehr ähnlich sähe. Er erkundigte sich weiter bei dem Hirten,
und der gestand endlich alles. Der König tat ihm nichts zuleide,
aber gegen den Harpägus ward er sehr zornig. Doch stellte er sich
freundlich gegen ihn und sprach: „Es ist mir lieb, Harpägus, daß
mein Enkel wiedergefunden ist, denn sein Schicksal ging mir zu Herzen.
Da sich nun alles so gut gewendet hat, so will ich, daß du deinen
Sohn mir zum Gespielen für meinen Enkel herschickest und selbst zu
mir zu Tische kommst, denn ich will für diese Rettung ein Freuden¬
mahl begehen." Harpägus schickte froh sogleich feinen einzigen Sohn
in das Königsfchloß. Aber dort wurde der arme Knabe auf Befehl
des Königs getötet und fein Fleisch zum Mahle zubereitet. Als die
Zeit des Essens gekommen war, erschien auch Harpägus. Allen anderen
Gästen wurde Hammelfleisch vorgesetzt, dem Harpägus aber das Fleisch