Full text: Lesebuch für landwirtschaftliche Winter- und Fortbildungsschulen

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ich mein Lebtag nicht gewagt hätte, thu' ich doch, ich setze mich rittlings 
auf den lederbesetzten, hohen dreibeinigen Stuhl, der vor dem Pult des 
Stotz steht; da hat er immer gesessen und hat markten können, daß er 
einem das Blut unter den Nägeln herausgedrückt. Jetzt ist der Stuhl leer, 
und auf dem Pult liegt kein Papier und wartet auf die Unterschrift. 
Darf man nicht von dem Blutgelde wieder holen, was man kriegen kann? 
So geht's mir durch den Kopf, aber ich kann kein Wort reden. 
Der Buchhalter wendet sich auf seinem Drehstuhle um und reicht 
mir die Hand. Diese Handreichung sagt viel. Niemand weiß von dem 
Guthaben als er und ich. Der Buchhalter thut mit, er thut gern mit, 
wenn ich ihm einen Teil gebe, und die Sache ist aus. Ich bin plötzlich 
bei Vermögen, und warum soll ich nicht? Der Stotz hat großen Ver— 
dienst an mir gehabt und ist reich, sehr reich, und ich — wenn ich jetzt 
zur Thür hinausgeh', ich bin plötzlich ein Mann von Vermögen, aber 
was noch außerdem? Pah! Tausende von Menschen würden an deiner 
Stelle zugreifen und vergnügt weiter leben. Wie viele haben es gewiß 
schon so mit dem Buchhalter abgemacht, warum willst du allein der ehr— 
liche Narr sein? Friß, derweil du an der Krippe stehst! Wie lange 
mußt du arbeiten, bis du so viel nur verdienst, viel weniger, daß du es 
erübrigen kannst! — Ich stehe auf, ich will einen Schritt gehen; aber ich 
kann nicht vom Fleck, und ich stampfe auf und sage „nein“ fast laut; 
aber etwas in mir hat doch „ja“ gesagt und fast noch lauter, und ich 
denke, wie mich jeder Mensch auslachen wird, dem ich erzähle, daß ich 
ein ehrlicher Narr gewesen bin. 
Ich gestehe, die Versuchung war stark. Der Buchhalter schaut mich 
an, lächelt und nickt, und dann kritzelt er wieder etwas aufs Papier. 
Ich kann darauf schwören, daß ich's zuerst gedacht habe, bevor er 
was gesagt hat. Mir war's, als säße ich drüben im Bräuhaus am 
runden Tisch in dem Erker, und vor mir sitzt der Buchhalter, und wir 
stoßen fröhlich miteinander an. Und wie ich das so denke, sagt der 
Buchhalter: „Wollen wir hinüber ins Bräuhaus? Es wird eben frisch 
angestochen.“ 
Es muß sein, daß es Minuten giebt, wo einer dem andern ins 
tiefste Herz hineinschaut. Und ich sag': „Da haben wir einen Gedanken 
gehabt; aber ich trinke jetzt nicht“, und mir wird plötzlich angst und bang, 
mir ist, als wäre ich mitten im Walde von Räubern angefallen, und doch 
red' ich vom Wetter und allerlei. 
Der Buchhalter macht das Buch zu, dreht den Schlüssel am Kasten 
ab, zieht einen andern Rock an, greift nach seinem Hut und steckt meinen 
Schuldschein in die Tasche. 
Ich bekomme eine Höllenangst vor dem Buchhalter, und plötzlich 
reiß ich mich los und fasse die Thür und renne und stolpere, daß ich fast 
zu Boden falle, zum Haus hinaus; aber ich wende mich um, und jetzt 
renne ich dem Buchhalter gerade auf die Brust; ich wende mich wieder 
ab und springe die Treppe hinauf, und „1187 Gulden 30 Kreuzer bin 
ich schuldig!“ schreie ich der Witwe zu, die oben an der Treppe steht.
	        
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