72 32. Deutsche Kunst am Ausgange des Mittelalters.
beherrschte die nordischen Meere; selbst Könige beugten sich ihrer
Macht. Aber die Zeiten änderten sich, und die Hansa zerfiel wieder.
Im Jahre 1598 vertrieb sie die Königin Elisabeth aus England; der
Stahlhof wurde geschlossen, „und sind wir mit Betrübnis unsers Ge¬
müts, der Aldermann voran und wir andern hernacher zur Pforte
hinausgegangen und ist die Pforte nach uns zugeschlossen worden,
haben auch die Nacht nicht drinnen wohnen mögen. Gott erbarm es!"
heißt es in ihren Aufzeichnungen über den Auszug aus dem Stahlhof.
Die Städte Hamburg, Bremen und Lübeck führen den Namen Hanse¬
städte'bis auf den heutigen Tag.
5. Die Städte und das Gewerbe. Außer dem Handel blühte in
den Städten auch das Gewerbe auf. Die Zahl der Handwerker
mehrte sich beständig. Alle, die in einer Stadt dasselbe Gewerbe be¬
trieben, bildeten eine Zunft oder Innung, au deren Spitze ein
Zunftmeister stand. In jeder Stadt gab es also eine Bäckerznnft,
Schmiedezunft, Schneiderzunft usw. Die Zunftgenossen hielten treu
zusammeu. Wer einer Zunft angehören wollte, trat als Lehrling ein;
hatte er es bis zum Gesellen gebracht, so begab er sich aus die Wander¬
schaft, um sich einige Jahre in der Fremde umzusehen und in seinem
Berufe zu vervollkommnen. Hierauf machte er sein Meisterstück.
Wurde dieses von den Meistern der Zunft für gut befunden, so wurde
er selber zum Meister gesprochen, so feierlich, als handle es sich um den
Ritterschlag. Nun ließ er sich als ehrsamer Handwerker nieder.
32. Deutsche Kunst am Äusgange -es Mittelnlters.
1. Dichtkunst. Die Zeit vom 13.—15. Jahrhundert bildet die
Blütezeit des deutschen Volkslebens. Das niedere Volk war zu immer
größerer Bedeutung gekommen, und trotz aller gesellschaftlichen Unter¬
schiede bestand zwischen hoch und niedrig kaum eine Trennung. Der
Geist der gesamten Nation war durch und durch volkstümlich; auch
tiefere Bilduugsunterfchiede bestanden saunt, die volkstümliche Rede¬
weise ist bei Geistlichen und Handwerkern, bei Bauern und Rittern,
bei Fürsten und Bürgern überall die gleiche. Dieser volkstümliche Zug
tritt namentlich auch in der Dichtung zutage. Der früher ausschließ
lich bei den Rittern gepflegte Minnegesang ist vermummt, an seine
Stelle trat der Meistergesang der Bürger. Der berühmteste
Meistersänger war Hans Sachs in Nürnberg, ein „Schuhmacher
und Poet dazu." Nach Handwerkerart traten die Me\fterjänger in
zunftmäßig eingerichteten Singschulen zusammen. Allerotngs hand¬
werksmäßig nur waren auch ihre Leistungen; sie haben keine einzige
Dichtung von dauerndem Werte hervorgebracht. Ihren Stoff nahmen
sie meist aus der Bibel. — Neben dieser nur im kleinen Kreise und nach
engherzigen Regeln gepflegten Dichtung erscheint dagegen als Ausdruck
der einheitlichen Volksempfindung das Volkslied, das in dieser
Zeit seine Blüte hat. Das ganze Volk hat es gesungen; unbenannt