sein." Da erwiderte Tell: „Wohlan, Herr, weil Ihr mich meines Lebens
versichert habt, so will ich Euch gründlich die Wahrheit sagen. Wenn ich
mein Kind getroffen, dann hätte ich Euch selbst mit dem andern Pfeil
erschossen und Euer nicht gefehlt." Wie das der Vogt vernahm, sprach
er: „Deines Lebens hab' ich dich gesichert und will dies halten. Weil
ich aber deinen bösen Willen erkannt, so lass' ich dich binden und an
einen Ort bringen, wo weder Sonne noch Mond scheint, auf daß ich vor
dir sicher sei." Und er ließ ihn mit Ketten binden und führte ihn mit
sich über den Vierwaldstätter See; denn er wollte ihn nach Küßnacht
bringen auf sein Schloß und dort in den Turm werfen.
Als sie aber auf dem See fuhren, erhob sich der wilde Wind, welcher
der Föhn heißt, und die Wellen schlugen so hoch auf, daß dem Landvogt
ein Grausen ankam und ihm bange ward um sein Leben. In solcher
Todesnot ließ er dem Tell, der gebunden dalag, die Fesseln lösen, auf
daß der im Rudern erfahrene Mann ihn errette. Nun führte Tell das
Fahrzeug mit Macht gegen Wind und Wellen. Wie sie aber an den
Axenberg kamen und der Tell eine Felsplatte sah, drückte er das Schiff
hart daran, ergriff rasch seinen Bogen und sprang dann auf die Felsplatte,
die noch heute die Platte des Tell heißt. Dem Schiff aber gab er mit
kräftigem Fuß einen Stoß, daß es wieder in den See fuhr.
Ehe Geßler ans Ufer kam, war Tell schon über alle Berge und legte
sich in den Engpaß bei Küßnacht, wo Geßler des Weges kommen sollte.
Da kam der Vogt geritten, Böses sinnend. Tell spannte seine Armbrust,
und der Pfeil flog in das Herz des strengen Herrn, also daß er tot
niederfiel. Hiernach entfloh Tell über das Gebirge nach Uri. Das Volk
aber freute sich überall, wo die Tat ruchbar ward, daß es des schlimmen
Gewaltherrn entledigt war.
X 19. Der ^rauerifanä. Von den Brüdern Grimm.
Deutsche Sagen. 4. Auflage, besorgt von Reinhold Steig. Berlin 1906. S. 177.
^Hestlich im Südersee wachsen mitten aus dem Meer Gräser und Halme
hervor an der Stelle, wo die Kirchtürme und stolzen Häuser der
vormaligen Stadt Stavoren in tiefer Flut begraben liegen. Der Reichtum
hatte ihre Bewohner ruchlos gemacht, und als das Maß ihrer Übeltaten
erfüllt war,»gingen sie bald zugrunde. Fischer und Schiffer am Strand
des Südersees haben die Sage von Mund zu Mund fortbewahrt.
Die vermögendste aller Insassen der Stadt Stavoren war eine Jung¬
frau, deren Namen man nicht mehr nennt. Stolz auf ihr Geld und Gut,
hart gegen die Menschen, strebte sie bloß, ihre Schätze immer noch zu
vermehren. Flüche und gotteslästerliche Reden hörte man viel aus ihrem
Munde. Auch die übrigen Bürger dieser unmäßig reichen Stadt, zu deren
Zeit man Amsterdam noch nicht kannte und Rotterdam ein kleines Dorf
war, hatten den Weg der Tugend verlassen.