Full text: Lebensbilder aus der deutschen Götter- und Heldensage

zweig vor dem östlichen Thore Walhalla's ist vergessen 
worden, aber hier hast du meinen Ring, worauf alle anderen 
Geschöpfe den Eid geleistet haben; gehe hin und vereidige 
auch ihn, damit selbst das kleinste Geschöpf dem Baldur nicht 
schade."*) Hocherfreut eilte Loki nach dem Mistelzweig und 
brach ihn ab. Dann begab er sich in den Kreis der Götter 
zurück, lieferte Frigga den Ring ab und nahm teil an 
den Belustigungen. Baldur s Bruder, namens Höd ur, 
der blind war, stand hinten zurück und beteiligte sich nicht 
an dem Schießen und Werfen. Zu ihm ging Loki. „Warum 
schießest du nicht auch noch Baldnr?" redete er ihn an, und 
Hödur antwortete: „Ich sehe ja nicht, wo mein Bruder steht, 
auch habe ich keine Waffe." Da sprach Loki: „Thue doch 
wie die anderen Götter und erzeige deinem Bruder Ehre. 
Ich will dir Bogeu und Pfeil geben und dich dahin weisen, 
wo er steht." Hödnr nahm nun Loki's Bogen, auf den die¬ 
ser den Mistelzweig als Pfeil gelegt hatte, und drückte ab. 
Die Mistel durchbohrte den Guten und Reinen, und leblos 
fiel er zur Erde. Sprachlos standen die Äsen und blickten 
sich einander an, wer die ruchlose That vollbracht hätte. 
Dann aber fingen sie au zu weinen, und so heftig, daß keiner 
dem anderen den Schmerz sagen konnte. Odin aber nahm 
den Sterbenden tieferschüttert in seine Arme und drückte ihm 
die gebrochenen Augen zu. 
Die Kunde von Baldur's Tod verbreitete sich sofort 
über ganz Asenheim, und als Odin den Leichnam in Frigga's 
Palast tragen ließ, da stürzte diese schon laut weinend und 
mit aufgelöstem Haar heraus, warf sich über den Entseelten 
und konnte des Klagens und Jammerns nicht satt werden. 
Endlich sammelte sie sich und rief laut in den Kreis der 
weinenden Götter hinein: „Will einer für immer meine Gunst 
*) Siehe Bratnscheck, Germ. Göttersage. Seite 172. 
Libers, Lebensbilder. z
	        
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