Vis zum 16. Jahrhundert
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unter musikalischer Begleitung in der Kirche selbst dargestellte liturgische
Drama verzichtete noch auf jede szenische Wirkung. Der gewaltige Stoff
sprach für sich selbst zu der gläubigen Menge. Aber die Freude am Spiel
und die Schaulust der Gemeinde führte doch bald zu einer „Simultanbühne",
die durch auf oder vor den Altar gestellte Sessel verschiedene Örtlichkeiten
andeutete. In einem Bogengang des hohen Chores lag das Paradies; der
den Herrn tragende Esel oder der Zorn des Herodes entfesselten bereits die
Lachlust der Neugierigen, und streng religiöser Eifer verwies das halb-
liturgische Drama hinaus auf den Kirchplatz oder auf den Markt. Noch
leiten die Geistlichen das als kirchliche Feier gedachte Spiel, aber schon be¬
teiligen sich neben ihnen Leute aus dem Volk und wandernde Mimen an der
Darstellung. Die Anzahl der szenischen Hilfsmittel für diese Simultanbühne,
die alle Örtlichkeiten der Handlung in buuter Reihenfolge nebeneinanderstellte,
wächst (Tafel XXXI, 1), und bald verlangt das Mifteriendrama eine außer¬
ordentliche Pracht der Ausstattung. Stand ein Marktplatz (Tafel XXXI, 2) für
das nur ganz äußerlich durch die Handlung zusammengeschlossene Vielerlei
der Vorstellung nicht zur Verfügung, so half man sich durch die Karren der
Wagenbühnen, die als Wandeldekoration vor den Zuschauern vorüberzogen.
Gewöhnlich aber ging das Publikum wie an einer Schaubudenreihe entlang
von einer Spielstelle (Mansio) zur andern. Selten nur begegnen uns in
mehrere Stockwerke übereinandergelegte Bühnenabschnitte. Fehlte es an De¬
korationsmitteln, so verwies wohl eine Tasel auf Namen und Art des szeni¬
schen Hintergrundes, oder einer der Darsteller erklärte im Prolog die einzel¬
nen Schauplätze. 22 Mansionen sind für einzelne Misterien nachgewiesen,
die Dauer der Aufführungen schwankt zwischen 3 und 40 Tagen. Bis zu
60000 Zuschauer fanden sich bisweilen ein; 300 Darsteller, die 491 Rollen
spielten, werden gezählt. Bühnenhäuser waren bei solcher Ausdehnung der
Spiele unmöglich; erst die literaturfähig werdenden Farcen und Gelehrten¬
dramen in Frankreich sowie die deutschen Fastnachtsspiele und Meister¬
singerdramen werden öfters und öfters in geschlossenen Räumen gespielt. 3n
Nürnberg errichtete man 1550 das erste deutsche Komödienhaus.
Berufsspieler gab es noch nicht. In England entwickelte sich erst mit
dem Niedergänge der Misterien und dem Auskommen eines gelehrten Renais¬
sancedramas sowie einer volkstümlichen Historiendichtung ein eigener Schau¬
spielerstand, der entweder in offenen „Sommertheatern" (TafelXXXI,3) oder in
gedeckten „Privattheatern" (Tafel XXXII, 1) spielte. Schon 1417 begegnen wir
einer reifenden englischen Schauspielergesellschaft auf dem Konstanzer Konzil.
Aber bedeutungsvoll für die deutsche Entwicklung werden die englischen Ko¬
mödianten erst seit Ende des 16. Jahrhunderts. Damals kam William Kempe