260 Das deutsche Reich.
frechen, leichtfertigen Charakter eines sittlich entarteten und ver¬
kommenen Menschen kund gegeben hatte, durch Richtersprnch zum
Tode verurteilt und im Hofe des Zellengefängnisses zu Moabit
enthauptet. Einige Wochen nachher starb Nobiling an Hirn¬
erweiterung und Lungenlähmung. Mittlerweile war der Reichs¬
tag zu einer außerordentlichen Session einberufen, um über den
von dem Bundesrate mit mehr Reife uud Überlegung ausgear¬
beiteten Gesetzentwurf gegen die „Ausschreitungen der Sozial¬
demokratie" Beschluß zu fassen. Es waren erregte Sitzungen,
in welchen sowohl die ans 21 Mitgliedern zusammengesetzte Kom¬
mission als die Plenarversammlung über die einzelnen Bestim¬
mungen des Sozialistengesetzes zu Gericht saß. Im Oktober
1878 wurde die außerordentliche Session geschlossen und das
neue Gesetz verkündet. Aus der Menge von Zeitungen, Flug-
und Zeitschriften, Broschüren und Büchern, die in rascher Folge
verboten und weggenommen, aus der großen Anzahl von Ver¬
einen uud Genossenschaften, welche auf Grund des neuen Gesetzes
im ganzen Reiche geschlossen wurden, erkannte man mit Erstau¬
nen , wie weit die sozialistische Verbindung verbreitet und wie
mannigfaltig und zahlreich die Organe und Werkstätten waren,
durch welche die Propaganda getrieben wurde. Die Ausführung
des Gesetzes stieß auf keinen Widerstand; nur in Berlin glaubte
man den sogenannten „kleinen Belagerungszustand" verhängen
und eine Anzahl von Agitatoren ausweisen zu müssen.
Der neue Reichstag, der im Februar 1879 zusammentrat,
hatte nicht nur die schwierigen Fragen - der Steuerreform und
die Ausstellung eines neuen Zolltarifs zu lösen; er sollte auch
eine neue Junungsorduung schaffen, ein UnfallberfichetungSgefetz
für Fabrikarbeiter in Angriff nehmen und andere hochwichtige
Fragen der Wirtschaftspolitik behandeln. In nicht geringe Er¬
regung wurde die öffentliche Meinung durch einen Gesetzentwurf,
betreffend die „Strafgewalt des Reichstags über feine Mitglie¬
der," versetzt, der eine Schutzwehr gegen oratorische Ausschrei¬
tungen der Abgeordneten errichten sollte, damit aber zugleich das
unantastbare Palladium der parlamentarischen Redefreiheit zu ge¬
fährden drohte.