§ 17. Deutsche Zustände in dem Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden. 95
§ 17. Deutsche Zustände in dem Jahrhundert nach dem
Westfälischen Frieden.
1. Die staatlichen Zustände. Das Münstersche Friedensinstrument, das Das Kaisertum,
man als eine deutsche Verfassungsurkunde ansehen darf, trägt den Stempel beut-
scher Eigenart insofern an sich, als es ein zähes Festhalten am Veralteten, d. h.
die Neigung zur Konservierung inhaltlos gewordener Formen, und eine Scheu vor
durchgreifender Neugestaltung unklarer und unhaltbarer Verhältnisse oerrät.1)
Was zunächst die Stellung des Kaisertums anlangt, so kam der schon seit
Jahrhunderten sich abspielende Prozeß der Untergrabung der kaiserlichen Macht-
fülle durch die Reichsstände auch im Westfälischen Frieden nicht zu einem Ab-
schlusse, vielmehr wurde die Abgrenzung der gegenseitigen Befugnisse einem
späteren Reichstage vorbehalten. Der staatsrechtlich nicht begründete Gebrauch,
schon bei Lebzeiten eines Kaisers einen seiner Söhne zum „Römischen König"
zu ernennen, wurde erst bei der Wahl Josephs I. auf Fälle dringendster Not
beschränkt. Die Wahlkapitulationen, die den Kurfürsten die Handhabe
zu immer größerer Einengung der kaiserlichen Stellung boten, wurden nicht auf
eine feste Norm gebracht, so daß von jetzt an auch die übrigen Reichsstände, die
seit 1648 die Landeshoheit erworben hatten, ihre Mitwirkung bei deren Auf-
stellung forderten. Trotz aller Einschränkung aber blieb dem Kaisertum doch
neben dem durch Kirche und Tradition geheiligten Glänze eine ganze Reihe realer
Machtbefugnisse, die sich teils aus der imperialen Gewalt (Standeserhöhung,
Privilegienverteilung, Reichshofsgerichtsbarkeit), teils aus der oberlehnsherrlichen
Stellung herleiteten. An einer festen Umschreibung dieser „Reservatrechte'',
wie sie die Reichsstände seit 1648 betrieben, lag der kaiserlichen Politik nichts;
denn gerade ihre Unbestimmtheit gab im diplomatischen Ränkespiel große Vor¬
teile. Aber wenn auch dem Habsburgischen Kaisertum aus seiner grundsätzlichen
Vertretung starrster katholischer Anschauungen manche Stütze im Reich erwuchs
und die kleinen und kleinsten Reichsstände ein natürliches Anlehnungsbedürfnis
zeitweise an das Oberhaupt fesselte, so mußten doch die Kaiser auch in dieser
Periode den Kampf mit den widerstrebenden Territorialfürsten fortsetzen.
Von den Reichsständen Hattert bie weltlichen wie bie geistlichen Terri- Die Reichsstände,
torialfürften seit bem im Westfälischen Frieben errungenen Zugeständnisse ber
„Landeshoheit" kein anberes Bestreben, als nach innen bte volle Selbstänbigkeit
ihren „Lanbftänben" gegenüber unb nach außen möglichste Absonderung vom
Reichsganzen (Partikularismus) zu erlangen. Eine eigenartige Rotte spielte
die unmittelbare Reichsritterschaft,2) die zwar die meisten Befugnisse der
1) Man vergegenwärtige sich die territoriale Zusammensetzung des Reiches: Sa-
voyen, Lothringen, mehrere italienische Staaten gehörten nominell dazu, Frankreich,
Schweden, Dänemark drängten sich mit dem Ansprüche auf Reichsstandschaft bedrohlich
in den Reichskörper hinein, während die deutfche Schweiz, ja Preußen außerhalb des
Reichsverbandes standen und Österreich durch die Ablehnung der wichtigsten Errungen-
schaft des 30 jährigen Krieges, der religiösen Duldung, seine deutschen Länder vom
inneren Zusammenhange mit dem Deutschen Reiche loslöste. Näheres über die terri-
torialen Verhältnisse s. Teil VIII.
2) Diese unmittelbare Reichsritterschaft (über 1000 Familien) ist nicht zu ver-
wechseln mit dem „landsässigen Adel", der schon bei der Entstehung der größeren
Territorialherrschaften sich den Fürsten hatte fügen müssen.