30 I. Grundzüge der physischen Geographie.
| Ein Blick in die Erdgeschichte zeigt uns das Meer als den Schöpfungsherd des urältesten
organischen Lebens: der Algen, Würmer, Molluskeu, Krustentiere nnd Fische. Erst spät
treten die ersten Formen der Landtiere auf, die Amphibien, nnd zwar noch in teilweiser Ab
hängigkeit vom Meere .J/
Auch im Vvlkerleben, uud zwar im wirtschaftlichen, politischen uud geistigen
Wettstreite der Nationen hat das Meer feit den ältesten Zeiten eine große Rolle gespielt,
und diese seine Bedeutung wächst mit der Ausdehnung des Welthandels und Weltverkehrs,
mit der Zunahme der Bevölkerung und deu steigenden ''Ansprüchen der kolonisierenden
Mächte in uugeahntem Maße. Von seiner richtigen Bewertung und von dem ernsten Willen
zu feiner Beherrschung sehen wir in der Geschichte vielfach die Weltstellung der Völker ab
hängig.
Unfruchtbar hat einst H o m e r die. See genannt, aber in Wahrheit erwies sie sich
stets als ein unerschöpfliches Erntefeld in allen drei R eichen
der Natur, am meisten im Tierreich. Sie gleicht einem Acker, auf dem der Mensch
einheimst, ohne je säen zu müssen. Der jährliche Gesamtbetrag der Seefischerei wird auf nicht
weniger als 1 y2 Milliarden Mark geschätzt. Außerdem gewinnt man an pflanzlichen Erzeug
nisfen Seegras als Ersatzmittel der Roßhaare zum Polstern uud Seetang, der zur Jod
bereituug dient, an mineralischen Produkten Seesalz.
Die Schätze des Meeres haben, wie schon des öfteren hervorgehoben worden ist, mich als
Lockmittel des Verkehrs gewirkt. Wesentlich der Seehundsfang war es, der die beherzten
Eskimo über die eisigen Sunde Amerikas bis in den höchsten jemals von Menschen bewohnten
Norden leitete und sie zu so unübertrefflichen Meistern im Kajakfahren heranbildete. Die
Kolonisation der Hellenen rückte, den Thunfischzügen entgegengehend, vom Agäifchen Meer
längs dem politischen Strand Kleinasiens vor, wie diejenige ihrer nantischen Lehrmeister,
der Phönizier, durch das Vorkommen der Purpurschnecke an den verschiedensten Stellen des
Mittelmeeres beeinflußt wordeu war (Kirchhoff). Indessen erreicht das Meer seine höchste
Bedeutung nicht als Lieferant von Nahrungs- uud Genußmitteln. Volkswirtschaftlich wich-
tiger erscheint es vielmehr als die Hochstraße des Weltverkehrs und
als Erzieher der K ü st e n v ö l k e r zu Unabhängigkeit, Einheit
n n d M a ch t.
* D i e See ist die größte, bequemste und billigste Verkehrs-
st r a ß e der Welt, dazu ist sie frei, gehört also keinem Volke ausschließlich.
Tie bildet ein zusammenhängendes Verkehrsgebiet, das fast drei Viertel der Erde umsaßt.
Ihr fehleu alle verkehrshiuderuden Höhenunterschiede des Landes und sie bedarf nicht, wie
das Land, besonderer künstlicher Straßen. Tie größten Fahrzeuge, vollbeladeu, können
zwischen allen Häfen der Welt verkehren, die nur die genügende Tiefe haben müssen. Daher
auch die große Wohlfeilheit der Seefrachten. Holz aus den Wäldern der unteren Donau
wird billiger auf dem Wasserweg um halb Europa herum und den Rhein aufwärts bis Köln
geführt, als direkt mit der Bahu. Italienisches Lbst und Südfrüchte werden in London und
Hamburg billiger feilgeboten als in dem viel näheren Wien oder München.
Die Seefahrt ist ferner allen Völkern ein Mittel wirtschaftlicher Entfaltung geworden,
den Phöniziern wie den Griechen, den Karthagern wie den Römern, den Engländern wie
den Holländern und nun auch wiederum den Deutscheu. Zunächst hat die Not, der Hunger
den Menschen hinausgetrieben auf das Meer und ihn dessen Gefahren nnd Schrecken über-
winden lassen, später lockte die Aussicht auf Gewinn. Nach überseeischen Ländern senden wir
Deutsche nun die Erzeugnisse unserer wachsenden Industrie: Zucker, Gewebe, Farben, Eisen-
waren, und empfangen von dorther wieder die Rohprodukte zur gewerblichen
Verwertung: Wolle, Baumwolle, Holz, Metalle, Kautschuk usw.; dann G e n n ß m i t t e l:
Kaffee, Tee, Tabak; B e l e u ch t u u g s m i t t e l: Petroleum; Düngemittel:
Ehilesalpeter u. a. D a s D e u t f ch e R e i ch befördert rund seines
H a n d e l s w e r t e s zur See, England, die Union und Japan gar 90%.