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B. Zur Länderkunde.
wirkte doch der Sonnenreflex, der in dem geringen Wafserdamps der dünnen Luft-
schichten nur wenig abgeschwächt wird, vom Eis durch Brille und Schleier so schmerz-
Haft intensiv hindurch, daß sich uns später die Haut vou Hals und Gesicht ablöste und
meine Augen tagelang der dunkelblauen Schutzbrille bedurften.
► ■ Das Erscheinen einiger kleiner Nebelwölkchen in unserer Höhe schreckte uns auf.
Beim Weitersteigen empfanden wir aber die Atemnot so stark, daß wir alle 50 Schritt
ein paar Sekunden stehenbleiben mußten, um weit vornübergebeugt nach Lust zu
röcheln. Der Sauerstossgehalt der Luft beträgt nach den Beobachtungen anderer
in 5800 m Höhe nur 48 Prozent, der Feuchtigkeitsgehalt sogar nur 15 Prozent von
jenem im Meeresniveau. Kein Wunder, daß uusere Lungen so schwer arbeiteten;
Sauerstoff- und Feuchtigkeitsmangel, übergroße körperliche Anstrengung und nament-
lich die hochgradige psychische Spaunuug vereinigten sich, um den Organismus zu
erschöpfen.
Die Eisobersläche wird mm zusehends zerfressener. Mehr und mehr nimmt
sie jene Beschaffenheit an, wie sie Dr. Güßseldt vom Aconcagua in Chile als „nieve
penitente" beschreibt. In Rillen und Furchen, in Schneiden und Spitzen bis zu
2 m Tiefe verwittert, bietet das Eisfeld dem steigenden Fuß Hindernisse dar wie ein
Karrenfeld. Da wir oft bis an die Brust einbrachen, nahmen unsere Kräfte in be-
sorgniserregender Schnelligkeit ab. Und immer noch dehnte sich die Wand unab-
sehbar, und der oberste Eisgrat wollte nicht näherkommen. „Vorwärts!" rief ich
zur Selbstaueiserung aus, „der Berg muß doch einmal ein Ende haben!" ii
Endlich, gegen 2 Uhr, näherten wir uns dem höchsten Rand. Noch ein halbes
Hundert mühevoller Schritte in äußerst gespannter Erwartung, da tat sich vor uns
die Erde auf, das Geheimuis des Kibo lag entschleiert vor uns: den ganzen oberen
Kibo einnehmend öffnete sich in jähen Abstürzen ein riesiger Krater.
Diese längst erhoffte uud mit allen Kräften erstrebte Entdeckung war mit so
elementarer Plötzlichkeit eingetreten, daß sie tief erschütternd auf mich wirkte. Ich
bedurfte der Sammlung. Wir setzten uns an: Rand des Ringwalles auf das Eis
nieder und ließen den Blick über deu Kraterkessel, seine Eismassen, seinen Auswurfs-
kegel, seine Umwallung schweifen. Da war es aber auch sofort klar, daß unser Punkt
(5870 m) nicht der höchste war, sondern daß die höchste Erhebung des Kibo links von
uns, auf der Südseite des Kraterrandes, lag, wo drei Felsspitzen aus dem nach Süden
abfallenden Eismantel noch einige Meter hoch hervorragen. Die Marschentfernung
bis dorthin schätzten wir auf \\ Stunden. Dazu aber reichten unsere Kräfte nicht
mehr hin; wir hätten denn riskieren wollen, am Endziel ohne jeglichen Schutz gegen
die Nachtkälte zu biwakieren, was uns sehr wahrscheinlich verhängnisvoll geworden
wäre. Wir hatten eine elsstündige, außerordentlich anstrengende Steigarbeit auf
unbekanntem Terrain zwischen ruud 4400 und 5900 m hinter uns und mußten für
den Abstieg noch mit dem Nebel rechnen, der nun über die Eiswände heraufzuwallen
begann.
In der Frage „umkehren oder biwakieren" war schließlich der Entschluß ent-
scheidend, die Besteigung in drei Tagen zu wiederholen und dann die höchste Spitze
zu forcieren. Vorläufig durften wir uns mit den Erfolgen der ersten Besteigung
zufriedengeben: die von vielen Seiten angezweifelte Existenz eines Kraters auf
dem Kibogipfel war nachgewiesen; über seine räumlichen Verhältnisse, seine Eis-
und Felsbildungen, seinen Auswurfskegel hatten wir Aufschluß gewonnen; das Wesen
des Kibo-Eismantels war erkannt; der Weg zum Oberrand des Berges war gefunden,
die Höhe von 5870in erklommen.