524 Kap. 53. § 309. Die deutschen Mittelstaaten. Tod Friedrich Wilhelms IV.
congrefj in Paris, zu dessen Schlußsitzungen auch noch Preußen ein¬
geladen wurde.
So erfolgte der von der Festigkeit, Mäßigung und Selbstbeherrschung
der Monarchen herbeigeführte europäische Friede vom 30. März 1856,
welcher für die nächste Zukunft in den europäischen Staaten das Bewußt¬
sein der Gemeinsamkeit der Interessen geweckt und insbesondere in
Bezug auf Deutschland die Wahrheit ans Licht gestellt hat, daß ohne
sein Wollen und Mitwirken weder der Westen sich dem Osten, noch der
Osten dem Westen aufdrängen kann.
Schon bei den Friedensconferenzen zu Paris konnte man aus den Reden
des sardinischen Ministers Cavour sehen, daß auch Österreich wegen seiner
Herrschaft in Italien ein Angriff zugedacht sei. Man fürchtete, daß nach
dessen Lähmung die Reihe an Preußen und das übrige Deutschland kommen
werde, wo die innern Zustände den Künsten des Auslandes so viele schwache
Seiten boten, die auch den dritten Napoleon locken konnten, den Grundsatz
des ersten: „L’un apres l’autre!" auf dasselbe anzuwenden.
so waren in Baiern das Ministerium und die Kammern über Reformen im Ge¬
richts- und Polizeiwesen im Streit; in Württemberg und in Baden brachte die
Conkordatangelegenheit einen Zwist der Stände mit dem Klerus hervor; in Kur¬
hessen wurde die Verfassung von 1831 mit Hilfe des deutschen Bundestags für unaus¬
führbar erklärt und eine neue oktroyirt; in Hannover schaffte der König die Ver¬
fassung von 1848 ohne Mitwirkung der Stände ab; in Sachsen, wo der tötliche Fall
des Königs Friedrich August den Bruder desselben, den wissenschaftlich gebildeten Johann,
auf den Thron brachte, blieb die religiöse Frage noch unentschieden. In Sachsen»
Coburg-Gotha schwebte noch der Streit zwischen den vereinigten Herzogtümern, und
die mit dem Namen Gothaismus belegte politische Richtung (die sogenannte klein¬
deutsche) fing an, sich im sogenannten Nationalverein zu verkörpern. In Schleswig-
Holstein fuhr die dänische Regierung fort, die alten Rechte Schleswigs durch eine
für ein dänisches Gesamtreich entworfene Verfassung zu verletzen, und weder der Ein¬
spruch Preußens und Österreichs, noch der des Bundestags konnte die Lage Schleswigs
verbessern.
Zwischen Österreich und Rußland war vom Krimkriege her, wo jenes
gegen dieses sich so „undankbar" für die Hilfe im ungarischen Kriege ge¬
zeigt hatte, eine starke Spannung zurückgeblieben; auch zwischen Preußen
und Österreich hatte dieser Krieg dem alten Antagonismus neue Nahrung
gegeben; der Bundestag aber konnte vermöge seiner mangelhaften Ein¬
richtung keine Ausgleichung herbeiführen.
Preußens Versuche, der laxen Observanz in Ehescheidungssachen entgegen zu treten
und den Volksunterricht auf das Maß des Erreichbaren zu setzen, stieß auf eine heftige
Opposition.
Die Losreißung Neuenburgs von der preußischen Oberhoheit, welche
von dem in der Schweiz vorherrschenden Radicalismus begünstigt wurde,
wollte zwar König Friedrich Wilhelm IV mit den Waffen verhindern,
aber Österreich wollte aus Besorgnis vor einem möglicherweise daraus
entstehenden allgemeinen Krieg die Sache vor den deutschen Bund ge¬
bracht wissen. Dadurch sah sich Preußen genötigt, die Vermittlung Louis
Napoleons anzunehmen, und als die Schweiz über die von Frankreich
vorgeschlagene Entschädigung markten wollte, verzichtete Friedrich Wil-
185? Helm IV am 26. Mai 1857 hochherzig auf jede Entschädigung.
Diese Neuenburger Verwicklung und das von Österreich dabei beobachtete
Verfahren verschlimmerte den seit einiger Zeit eingetretenen Krankheitszustand