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bis an das Mitlelmeer und die Pyrenäen spielt etwas zum Süden hin^ 
und doch ist es noch nicht ganz Südland, wie der größte Theil Italiens 
und Spaniens. Frankreich macht also ganz eigentlich die Mitte zwischen 
dem Norden und Süden Europa's, es macht gleichsam einen Uebergang. 
Frankreich hat auch zwei verschiedene Seelen in sich, eine nördliche und 
eine südliche Seele, die sich bis auf den heutigen Tag in mancherlei Hader 
und Zwietracht bekämpfen und das unruhige, wankelmüthige, wechselvolle, 
wunderliche Treiben bilden, welches wir das französische Leben und Wesew 
nennen, und welches wie ein siedender Topf nach unserer deutschen Seite 
hin, wo der Rand am niedrigsten und hin und wieder abgebrochen ist, 
immer überschäumen und es mit seinem siedenden Brodem übersprühen 
und versengen will. 
Dieses im Ganzen fruchtbare und schöne Land mit zwei großen 
Meeren, dem Atlantischen und Mittelländischen, und dem unruhigen, sturm¬ 
und kriegvollen Kanal, und mit vortrefflichen Häfen an seinen Küsten, hat 
freilich nicht die hochgestaltige und vielgestaltige Mannigfaltigkeit Deutsch¬ 
lands, Italiens und Spaniens, aber es ist reich an Wein, Getreide, 
Obstbau, Viehzucht und zieht im Süden schon den Oelbaum und einzelne 
Südfrüchte und den Maulbeerbaum mit dem Seidenwurme, ist auch durch 
Handel, Schifffahrt, Gewerbfleiß und Colonien ein gesegnetes und mäch¬ 
tiges Reich. 
Werfen wir einige Blicke auf den Charakter des Volkes. Am auf¬ 
fallendsten und merkwürdigsten in dem französischen Nationalcharakter ist 
das Gepräge, das ihm die Hauptstadt des Landes aufgedrückt hat und fort¬ 
während aufdrückt. Ganz Frankreich würde ein anderes Frankreich sein, 
wenn für Paris irgend eine Stadt an der Rhone, Loire oder unmittelbar 
am Ocean seine Hauptstadt geworden wäre. Mit Paris sind alle Fran¬ 
zosen zu sehr in das gallische Element eingetaucht und untergetaucht 
worden. Dieses Element mußte auf die Eingewanderten auf jeden Fall 
den größten Einfluß haben, aber sicher würde dieser Einfluß nicht so groß 
gewesen sein, wenn die große Hauptstadt nicht recht in dem gallischen Kern 
gelegen hätte. Es läßt sich ziemlich klar und genau Nachweisen, wie die 
nachbarliche normännische Windigkeit und Abenteuerlichkeit und die gallische 
Leichtfertigkeit und Luftigkeit zusammen dem Ganzen die Gestalt gegeben 
haben, die es jetzt hat. Von Paris aus, welches im Mittelalter ein all¬ 
gemeiner Herd war, an welchem schon damals Kunst und Wissenschaft stch 
wärmte, ist alles klebrige des Reichs mehr oder weniger gemacht worden. 
Paris ist Frankreichs Hauptstadt wie keine andere Hauptstadt irgend eines 
europäischen Landes, und weil sie durch das Glück, daß ihre Sprache eine 
Weltsprache geworden, daß Alles, was Feinheit, Schönheit, Anmuch und 
Bildung ini Sinne der jüngsten Vergangenheit suchte, daß wenigstens alles 
Freiherrliche und Fürstliche einige Jahre nach Paris gehen mußte, um stch 
dort den Firniß feiner Sitten überstreichen zu lassen, die stolze Einbildung 
gefaßt hatte, sie sei wirklich die Hauptstadt aller Bildung und Wissenschaft;
	        
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