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so hat diese Einbildung das ganze französische Volk wie ein wahrer Zauber 
ergriffen und hält es immer noch fest, nachdem die Fremden großen- 
theils von dem frühern Wahne erlöst sind. Paris ist darum auch ein 
Mittelpunkt französischer Eitelkeit*), welche allerdings berechtigt ist, sich 
auf ihr Volk etwas einzubilden, aber leider diese Einbildung nicht immer 
auf die edleren Eigenschaften legt. Denn auch die Herrschaft der fran¬ 
zösischen Sprache ist nicht blos etwas Zufälliges, etwa allein durch das 
Uebergewicht geworden, welches die Franzosen seit der Mitte des 17. Jahr¬ 
hunderts über die andern europäischen Völker bekamen: sondern die Leich¬ 
tigkeit, Lebendigkeit, Witzigkeit des Volkes, seine Klarheit und Feinheit, 
sein leicht greifender Verstand der äußern Dinge, und das Talent, alles 
Geschaute, Empfundene, Gedachte leicht und bequem in klarer, netter 
Sprache auszudrücken, die gleich glatten Kieseln durch unaufhörlichen Ge¬ 
brauch geschliffen, leicht über die Zunge hinweggleitet und fortlispelt, der 
im Ganzen leichte, streng gesetzmäßig geordnete Bau machen sie wirklich 
zu einer Weltsprache sehr geeignet. 
Merkwürdig, die Franzosen sind ihrem Wesen nach auf den Verstand 
angewiesen, sind durchaus ein feines, klares, verständiges Volk — aber 
so mächtig ist bei ihnen dieEitelkeit, daß diese sie alle Augenblicke von 
dem geraden, hellen Wege des Verstandes abbringt. Denn blind wird, wer 
in den Spiegel der Eitelkeit schaut, und sie halten sich diesen Spiegel 
immer selbst vor und zürnen, wenn ein wahrhaftiger Mann ihnen densel¬ 
ben wegnehmen will. Man vergleiche nur die Redner in den französischen 
und englischen Kammern. Der Engländer haut den geraden Schwerthieb 
des Wortes und der Gründe, worauf sein Wort ruht; er spricht frisch 
und gerade aus der Sache und Person heraus, um was es sich eben han¬ 
delt. Der Franzose muß bei den meisten Sachen Quer- und Scheinhiebe 
*) Unser A. M. v. Thümmet (Neise in's mittägige Frankreich — sämmtliche Werke 
1. Th eil) bemerkt treffend: ,,Die Eigenliebe dieser glücklichen Nation ist doch in der 
That nicht von gewöhnlichem Schlage. Sie belebt, bewegt und verbindet, gleich einer 
allgemeinen Eroberungssucht, jedes einzelne Mitglied des Staats zu dem gemein¬ 
schaftlichen Endzwecke, den Beifall und die Bewunderung aller Völker der Erde zu 
erbeuten. Sie ziehen öffentlich zu Felde und thun geheime Ausfälle darnach und halten 
sich — wodurch sie eigentlich unüberwindlich werden — niemals für geschlagen. Wenn 
der Erste, dem du auf der Straße begegnest, auch noch so bettelarm ist, daß er dir 
weder tndne des fermes aus einer verschabten Dose anbieten, oder dir unter einem 
zerrissenen Kittel wenigstens ein Paar Manschetten zur Schau geben kann: so ist doch 
zu wetten, ihr seid noch keine Viertelstunde mit einander fortgeschlendert, so glaubt 
er dir das Geständniß abgenöthigt zu haben, daß kein Volk so mächtig, so reich, so 
witzig, so artig, so erhaben sei als das seinige; und sollte sein Antheil an diesem 
Nationalvermögen auch noch so gering sein, so ist er doch gewiß mit seinem Loose 
zufriedener, als du mit dem deinigen. Die guten Leute wissen jede Einwendung, die 
wir dagegen merken lassen, so geschwind zu entkräften — glauben, daß jedes mensch¬ 
liche Auge so geformt sei wie das ihrige, und können nicht begreifen, wie ein Fremder 
unter ihren bunten Kleidern Armuth, eine verdorbene Haut unter ihrer Schminke, 
und Elend und Verzweiflung in den Labyrinthen ihrer Hoffahrt entdecken könne."
	        
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