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Poesien, die noch heutiges Tages, wie vor 3000 Jahren, beim griechi¬ 
schen Volke am besten verstanden werden, eben so wie bei dem Nomaden¬ 
volke der Araber die Traditionen von ihren Hirtenpatriarchen Abraham 
und Jsmael. 
Einmal von außen her angeregt, entwickelte der fruchtbare und wie 
das Wasser bewegliche Genius der Griechen eine wunderbar vielseitige 
Thätigteit in allen Richtungen des menschlichen Schaffens. Zum Enthu¬ 
siasmus — es ist ein schönes Wort griechischer Empfindung — geneigt, 
mit Phantasie und einem lebhaften Ahnungsvermögen begabt, erkannten 
sie auf den weitschauenden Gipfeln ihrer Berginseln, in den Hainen ihrer 
Küstenthäler, auf den blumengeschmückten und von lieblichen Quellen und 
Flüssen berieselten Fluren ihrer kleinen Uferlandschaften überall die Spur 
einer Gottheit. Jedes Versteck ihres Landes wurde von der Dichtung 
verherrlicht und verewigt. Sie lernten die Götter verehren und in allen 
Gegenden Griechenlands blühten Orakelstätten, Tempel und Wallfahrtsorte 
empor. Jeder Zoll des Landes wurde classisch und geheiligt: 
Alle Höhen füllten Oreaden, — 
Eine Dryas lebt' in jedem Baum, 
Aus den Urnen lieblicher Najaden 
Sprang der Ströme Silberschaum. 
Wie ihr Land, so bot auch ihr Leben die stärksten Contraste. Das 
Schifferleben war reich an Wechsel und bunten Begebenheiten und hätte 
allein schon hingereicht, den Erzählern, den Rednern, den Dicktern den 
Mund zu öffnen. Im Hintergründe dieses wild bewegten stürmischen See¬ 
lebens aber lagen die kleinen reizenden und friedlichen Heimathen in den 
Jnselverstecken, die häuslichen Herde an den Abhängen der Berge, die 
sritchtbaren Ackersluren längs der klaren Flüsse und das idyllische Hirten¬ 
leben aus den Bergen Jda, Pelion, Helikon und im Innern von Arkadien. 
Natürlich mußten sich die Griechen unter solchen Naturverhältnissen und 
Contrasten dichterisch erregt fühlen. Sie griffen in die Lyra und sie 
haben gespielt und gesungen wie keine Anderen vor und nach ihnen. 
Nach dem Muster der von den Aegyptern und Phöniziern bei ihnen 
gegründeten Gemeinden stifteten und ordneten sie blühende Städte, Re¬ 
publiken und Staaten in Menge rings um den Archipelagus herum. 
Dort erstarkt, segelten sie weiter auf den nassen Pfaden des Meeres, 
erfüllten Italien und Sicilien mit ihren Colonien, steckten Leuchtthürme 
der Bildung an allen barbarischen Küsten des schwarzen Meeres aus, 
umfaßten damit, wie mit einer goldenen glänzenden Verbrämung, den 
ganzen Nordsaum von Afrika und impften von Mafsilia aus dem fernen 
Gallien die ersten Anfänge der Cultur ein; selbst aus den Säulen des 
Herkules segelten sie hinaus auf den unermeßlichen Ocean. 
Indem sie auf diese Weise die bekannte Welt durchmaßen, fingen sie, 
deren Geist eben so idealer als praktischer Natur war, an, über das 
Weltall zu speculiren, und es traten mitten aus ihren mit Waaren erfüllten
	        
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