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Von der Seele des Menschen.
beiden Frauen, wovon ich vorhin erzählte, waren in Lei¬
denschaft. Die Seele derjenigen Frau, deren Mann wie¬
dergekommen, war in der Leidenschaft der Freude; und
die'Seele der andern Frau, in der Leidenschaft der
Traurigkeit. — Wiederholt das Gesagte noch einmal.
Kinder. Unsere Seele freuet und betrübt
sich zuweilen so sehr; oder sie begehrt und
verabscheuet zuweilen Etwas so heftig, dass
sie nichts Anderes hört und sieht, und das
Blut in unsern Adern viel geschwinder herum¬
läuft, als sonst: das nennt man denn einen Affekt,
oder eine Leidenschaft.
Lehrer. Wie viele Arten solcher Leidenschaften haben
wir jetzt kennen gelernt?
Kinder. Zwei; die Leidenschaft der Freude,
d. i. wenn man sich so unmäßig freuet; und die Leiden¬
schaft der Traurigkeit, d. i. wenn man sich so un¬
mäßig betrübt.
Lehrer. Gut.
Vor einiger Zeit kam mein Nachbar zu mir und bat mich,
dass ich ihm einmal einen Brief vorlesen möchte, den er so
eben bekommen habe. Es war ein Brief von seinem Bru¬
der, welcher in einer entfernten Stadt wohnte und den er
seit vielen Jahren nicht gesehen hatte. Derselbe schrieb,
dass er in drei Wochen ihn vielleicht besuchen würde. Hier¬
über war mein Nachbar höchst erfreuet. Er hatte also eine
Freude oder angenehme Empfindung über etwas Gutes,
das noch nicht da, und auch nur wahrscheinlich war; eine
solche angenehme Empfindung nennt man Hoffnung;
und wenn dieselbe recht groß ist, wie die meines Nachbars,
so hecht sie die Leidenschaft der Hoffnung.
Wann befindet sich also Jemand in der Leidenschaft
der Hoffnung?
Kinder. Wenn er sich etwas Gutes vor¬
stellt, das noch künftig und auch nur wahr¬
scheinlich ist, und darüber in eine lebhafte ange¬
nehme Empfindung geräth.
Lehrer. Dies war mithin die dritte Leidenschaft
unserer Seele.
Ich las nun den Brief meines Nachbars erst aanz
aus, und da schrieb der Bruder desselben denn noch, dass
sein einziger Sohn gegenwärtig sehr krank sei, und dass