180 Die Pyrenäenhalbinsel.
Gestalt. Wer von dem herrlichen, mit allen: Komfort ausgestatteten Pyrenäen-
bade B agner es de Luchon, welches sich in üppigem Laubwalde versteckt, zu
dem Passe von Venasque, einer engen Einsattelung in der vorgelagerten
Kette, aussteigt, der sieht plötzlich eine finstere, zerborstene, in furchtbaren
Wänden abfallende, mit Eis und Schnee belastete, mehrgipfelige, über alle Be-
griffe erhabene Masse vor sich — es ist die Maladetta. Weniger imposant
erscheint der Gebirgsstock vom Süden her, wohin er sich in hohen Terrassen
absenkt. Von Bagneres de Luchon aus wird die Maladetta bestiegen. Die ersten
10 km führt der Weg ein hübsches Thal, durch das der Pique zur Garouue
stürzt, aufwärts. Hinter dem Hospiz von Luchon (1360 m) führt der Weg
zunächst durch einen Buchenhain und bietet von Zeit zu Zeit einen anmutigen
Blick in den durchwanderten Thalgrund. Rechts erhebt sich die gewaltige
schwarze Felsenspitze des Pik de la Pique (2893 in). Später tritt man in
die Region der Weiden ein. An der Esealette erreicht man die Grenze von
Aragonien und Katalonien und durch kleine Schneeflächen zu der Pieade
(2454m). Von hier aus scheinen die beiden Hauptgipfel, der Pik de la Ma-
ladetta (3312 in) und der Nethou (3404 m) eine gleiche Höhe zu haben.
Zwei große Gletscher kommen von ihnen herab, geschieden durch einen gewal-
tigen schwarzen Felsgrat, der sich von dem blendenden Weiß der Gletscher-
kräftig abhebt. Um an den Fuß der Maladettagipfel zu gelangen, muß man
zu dem schönen Thale der Essera (1798 m) hinab, von welchem man wieder
aufwärts zur Rencluse (2082 m) steigt. Dieselbe besteht aus überhängenden
Felsen, welche den Bergsteigern einen nur sehr mäßigen Schutz gegen die
Unbill der Witterung gewähren. In uumittelbarer Nähe stürzt ein reißender Bach
in großen Sätzen mit höllischem Gepolter von dem Gletscher der Maladetta
herab und verliert sich in einem ungeheuren Schlünde, um erst nach 2stün-
digem unterirdischen Laufe wieder aus Tageslicht zu treten und als Essera
dem Ebro zuzueilen. Der etwas entferntere Gletscher des Nethou verliert sich
im Trou du Taureau, um nach einem unterirdischen Laufe von 4km in der
Vallee d'Artigne als „Jnpiterange" wiederznerscheinen uud die Garouue
zu bilden. — Nachdem man auf einer rohen Brücke die Essera überschritten
hat, steigt man durch Alpenrosenbüsche hinan und gelangt über die Felsen,
welche die Gletscher der Maladetta und des Nethou scheiden, zu dem Col du
Portillon, von welchem man die beiden Gletscher rechts uud links überblickt.
Über zerborstenes Steingeröll erreicht man das Eismeer, und hat man das-
selbe unter vielfachem Einsinken endlich überwunden, so steht man grausend an
der „Mohammedsbrücke", einem schmalen Felsgrate, welcher den Gletscher
mit dem Gipfel des Nethou verbindet. Auf eine Länge von 40 m führt dieser
nur 1 m breite und von verwittertem Gestein gebildete Felsgrat über snrchtbar
gähnende Abgründe hinüber — eine „Brücke des Paradieses", die, wie
die Mohammedaner glaubten, nur von den Gerechten ohne Gefahr betreten
werden kann. Der Gipfel des Nethou bildet eine kleine Ebene von 20 rn Länge
und 8 m Breite und besteht aus quarzreichem Porphyr. Großartig ist die Aus-
ficht an günstigen Tagen, die allerdings nicht immer vorkommen. Die ganze
Kette der Pyrenäen vom Golf von Biscaya bis zum Mittelmeere liegt zu unfern
Füßen; das Auge hat nicht Kraft genug, eine solche Ausdehnung zu erfassen.
Gegen Norden gehen die Verzweigungen des Gebirges bis in die Ebenen der