Geistesleben, Bildungswesen und Religion.
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Ungarns sehr verschieden. Die Bewohner von abgeschlosse¬
nen Gebirgst h älern, wie in der Tatra, in den Ost- und Süd¬
karpaten, haben nicht mehr geistige Bedürfnisse und zeigen daher^
auch keine höhere geistige Regsamkeit als die Bewohner vieler
Alpenthäler. Auch in den Gegenden, die vorzugsweise für den
Betrieb der Viehzucht geeignet sind, blieben die Bewohner
geistig zurück. Selbst von der Ungarischen Tiefebene lässt sich
sagen, dass sie in dem Grade, als sie das genügsame und einfache
Hirtenleben begünstigte, auch die geistigen Bedürfnisse ein¬
schränkte. Mit dem allmählichen Übergang zum Ackerbau wur¬
den diese grösser, und sie wachsen noch weiter mit der Ausbrei¬
tung gewerblicher Thätigkeit. Wo die Bewohner zum Acker¬
bau bet riebe früher übergingen und auch, angeregt durch andere
Verhältnisse, eine rege gewerbliche Thätigkeit entfalteten,
wie im Donauthale, in Böhmen, Mähren und Schlesien, ist die
Volksbildung, aus dem Bedürfnisse heraus, eine höhere ge¬
worden. So können wir, wenn wir die Regsamkeit des geistigen
Lebens in Vergleich stellen wollen, in Österreich-Ungarn zwei
grosse Bezirke unterscheiden, die geistig hoch entwickelten
Ackerbau- und Industriegegenden des Westens und die in der all¬
gemeinen Volksbildung noch wenig vorgeschrittenen Gegenden
mit vorwiegendem oder doch noch starkem Betrieb der Viehzucht
im Osten.
Von den verschiedenen Völkerschaften hahen die Deutschen
nicht bloss die älteste Kultur, sondern sie nehmen auch die
erste Kulturstufe ein. Es liegt dies einerseits darin begrün¬
det, dass die Deutschen überhaupt früher als die Slaven zu einer
höheren Kultur gelangten, anderseits darin, dass in den österreichi¬
schen Ländern Jahrhunderte lang der Schwerpunkt des Deutschtums
gelegen hat. Wien war der Sitz des deutschen Kaisers. An
der hohen Kultur, die Süddeutschland früher als Norddeutschland
erreichte, nahmen die Donauländer mit Teil. Neben Wien ent¬
wickelten sich besonders Prag uud Graz zu Städten, wo ein
reges deutsches Geistesleben erblühte. Die Auflösung des
deutschen Kaiserreichs vor fast 100 Jahren musste der
deutschen Kultur in den Donauländern einen empfindlichen Schlag
versetzen. Der österreichische Kaiser stand nicht mehr als deut¬
scher Kaiser da. Der Schwerpunkt des Deutschtums lag nicht
mehr in Wien. Die völlige Absonderung der Donauländer
vom übrigen Deutschland musste noch eine schlimmere Wir¬
kung ausüben. Die österreichischen Deutschen vermögen die vor¬
herrschende Stellung, die sie Jahrhunderte lang eingenommen haben,
gegen den slavischen Ansturm kaum oder nur mit grösster
Mühe zu halten. Nur durch ein geschlossenes Zusammen¬
halten kann der Kampf gewonnen werden, den in manchen Gegen¬
den, wie in Böhmen, auch die wirtschaftliche Überlegenheit, we¬
nigstens augenblicklich noch unterstützen kann.
Der Deutschösterreicher zeichnet sich ebenso durch sein