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es übt einen wunderbaren Zauber auf die Natur und auf den Menschen. 
Tag und Nacht müssen hier, näher dem Nordpole, ein ganz anderes 
Spiel spielen, als an dem Po oder an dem Rhein. Die längsten Tage, 
wo die Sonne hier kaum untergeht, die kürzesten Tage, wo man sie 
nur vier, fünf Stunden sieht und die übrigen Dämmerstunden des 
Morgens und Abends ein langsam erbleichendes Rot am Himmel mit 
buntesten Farben ausglüht und verglüht, als die seltsamsten, wunder- 
barsten Gebilde, welche zwischen dem Lebendigen und dem Starren und 
Unbeweglichen, zwischen den Lichtern und Schatten, die von den ver- 
schiedenen Jahreszeiten hier so eigentümlich gezeigt werden, hinschweben, 
schimmern und zerflattern — könnte ich doch das malen, wie ich es 
empfunden und gesehen habe! Aber wer kann die Lichtspiele der Natur 
auf das Menschenauge und das Menschenherz, wer kann Unbeschreib- 
liches beschreiben? Man muß hier gelebt haben, man muß in den mit 
mancherlei Luftscheinen spielenden Winternächten, in den nimmer ganz 
dunkelnden Sommernächten durch Schwedens Wälder und zwischen 
seinen Seeen und Felsen hingefahren sein, man muß die eigentümlichen 
Bilder zwischen Lichtern und Schatten vor sich hinschweben und tanzen 
gesehen haben, um von den Zauberscheinen und den wundersamen Träu- 
men, die einen im Norden überfallen, eine Vorstellung zu haben. Kurz 
das Licht ist hier ein wahrer Zauberer auf und über die ganze Natur 
und durch diese Natur in der Zurückspielung auf den Menschen. Wie 
wunderbar mächtig lebt und webt dieser Zauber in den Augen und 
Herzen des Nordländers; jeder Fels, jeder Berg, jeder Stein und 
Baum, jeder See und jede Quelle haben ihre lebendigen Geister: die 
Trolt (Zaubergeister) und die schwarzen und weißen Elsen mit ihren 
Tänzen, Reigen und Gesängen auf den Blumenwiesen und unter Lieb- 
lingsbänmen (z. B. Eschen, Ahornen, Holnndern) begegnen dem Schweden 
und Normann auf jedem Schritte; der Reisende, welchem ein Bär oder 
Wolf über den Weg hinstreicht; die Jungfrau, welche aus den Früh- 
lingszweigen den ersten Kuckuck singen hört; die Amme, welche das 
Kind aus der Wiege nimmt oder es wieder hineinlegt; der Jäger, 
welchem eine Elster oder Krähe über den Kopf fliegt — alle haben sie 
mit Geistern zu thun, haben diese durch alte bekannte und bewährte 
Mittel zu versöhnen und anzulocken oder zu verscheuchen und abzu- 
wehren, je nachdem sie schwarzer oder weißer Farbe, böser oder freund- 
licher Natur sind. Noch heute herrscht die alte Eddalehre in den Herzen 
der Menschen, noch heute entführen die Bergelfen, die kleinen, kunst- 
reichen Schmiede und Juweliere des Goldes und Silbers, die Frauen 
der Schweden in ihre von Gold und Diamanten strahlenden unter- 
irdischen Bergpaläste, zeugen Söhne und Töchter mit ihnen und lassen 
sie dann nach Jahren zum Erstaunen der Menschen wie Fremdlinge 
wieder in die Oberwelt an das Licht des Tages heraus. Dieser Zauber- 
glaube geht durch alle Volkslieder des Nordens und wohnt nicht 
bloß in den Spinnstuben und Hütten der Bäuerinnen und Hirtinnen.
	        
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