Full text: Lektüre zur Erdkunde

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Das hat den Anschein, als ob wir mit der Drift nach Süden 
zu Ende wären. Und wenn ich außerdem noch die überraschende Wasser- 
wärme, die wir in der Tiefe gefunden haben, in Erwägung ziehe, dann 
scheint die Lage mir wirklich lichter auszusehen. Meine Gründe dafür 
sind folgende. 
Die Wassertemperatur in der ostgrönländischen Strömung ist 
selbst an der Oberfläche nirgends über 0° (der mittleren Jahres¬ 
temperatur) und scheint in der Regel —1° C zu sein, selbst noch 
auf 70° nördlicher Breite. Auf dieser Breite sinkt die Temperatur 
stetig, je tiefer man unter die Oberfläche gelangt; in größerer Tiefe 
als 100 Faden (183 m) ist sie nirgends über —1° C, vielmehr in 
der Regel zwischen —-1,5 bis -1,7° C bis zum Grunde hinab; 
außerdem ist die Temperatur auf dem Grunde des ganzen Meeres 
nördlich von 60° Breite unter —1° C, ausgenommen auf einem 
Streifen längs der norwegischen Küste und zwischen Norwegen und 
Spitzbergen. Hier ist die Temperatur von 160 m abwärts 
über —1° C und in 250 m Tiefe bereits +0,55°C, und zwar, 
wohlgemerkt, nördlich von 80° Breite in einem den Kältepol um- 
gebenden Meere. 
Dieses warme Wasser kann schwerlich aus dem Polarmeer selbst 
kommen, da die von dort nach Süden setzende Strömung eine mittlere 
Temperatur von —1,5° C hat. Es kann kaum anders sein, als daß 
der Golfstrom seinen Weg hierher findet und das Wasser ersetzt, 
das in den obern Schichten nach Norden strömt und die Quelle der 
ostgrönländischen Polarströmung bildet. Alles das scheint mit meinen 
früheren Annahmen gut übereinzustimmen und unterstützt die Theorie, 
auf welcher der Plan der Expedition aufgebaut war. Und wenn man 
außerdem noch berücksichtigt, daß die Winde, wie erwartet, in der 
Regel südöstlich zu sein scheinen, wie es auch auf der internationalen 
Station bei Sagastir an der Lenamündung der Fall war, so scheinen 
unsere Aussichten nicht ungünstig zu sein. 
Oft glaubte ich ferner unter dem Eise unverkennbare Zeichen einer 
stetigen nordwestlich setzenden Strömung zu entdecken; dann heiterte 
sich meine Stimmung natürlich auf. Wenn aber zu andern Zeiten der 
Strom wieder südlich setzte, wie es oft der Fall war, kehrten auch 
meine Zweifel zurück, und es schien mir, als ob keine Aussicht sei, 
unsere Aufgabe innerhalb einer angemessenen Zeit zu vollbringen. 
Freilich ist solches Treiben im Eise für den Geist aufregend, aber 
es bildet wenigstens eine Tugend aus: die Geduld. Die ganze Expe- 
dition ist in Wirklichkeit eine einzige lange Übung in dieser nützlichen 
Tugend. 
Mit dem Fortschreiten des Frühjahrs kamen wir etwas besser 
vorwärts, als es im Winter der Fall gewesen war; im großen und 
ganzen war es aber stets derselbe ermüdende Krebsgang. Jedesmal,
	        
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