56 44. Wie ein alter Meister über Höflichkeit dachte.
vom langen Wege, hielt für meine alten Glieder das Sitzen für zuträglicher
als das Stehen und lehnte das Angebot kurz ab. Jetzt trat eine Frau
in mittleren Jahren ein. Betrübt sah sie sich um, kein Plätzchen war mehr
zu finden. Ich kannte sie nicht, dachte aber in meinem Herzen: „Dieser
Mutter — sie hatte ein Mädchen bei sich — wird es ein Gefallen
sein, wenn sie sich setzen kann." Freundlich nahm sie den Platz an,
den ich ihr freundlich bot, und dankbar rühmte sie daheim ihrem Manne
die Höflichkeit eines Unbekannten, wie ich später zufällig erfuhr.
Wie oft hatte ich Gelegenheit Fremden den Weg zu weisen! Was
nützt das viele Beschreiben, dachte ich, du gehst selbst eine Strecke mit.
Und wie dankbar freundlich nahmen es die Leute an und wollten gar
nicht glauben, daß ein Mensch dem andern so hilfreich uneigennützige
Dienste leisten könne! Was dann einer im Orte tut, das wird der
ganzen Gemeinde zugerechnet und die Fremden sagen daheim und wohin
sie sonst kommen: „In N. gibt es höfliche Leute wie nirgends!" Und
bringt solche Höflichkeit auch keinen unmittelbaren Nutzen — denn wenn
man sie sich bezahlen läßt, so ist es keine Gefälligkeit und Höflichkeit
mehr—so bringt sie doch Land und Ort in guten Ruf. Auch kommt
wohl einmal eine Gelegenheit, bei der dir die Gefälligkeit unerwartet
vergolten wird. So ging es mir z. B. mit der Frau, der ich beim
Kirchenkonzerte meinen Platz abtrat. Ich hatte viele Jahre darauf in
der Residenz in Gemeindeangelegenheiten zu tun; dabei sollte und
mußte ich mit der höchsten Landesbehörde selbst verkehren. Du lieber
Himmel! wenn unsereiner in eine so große Stadt kommt, sieht er den
Wald vor lauter Bäumen nicht, weiß nicht, wo aus noch ein. Da
stand ich auf der großen Schloßstraße und gaffte die hohen Häuser an
und sann, wie ich's anfangen sollte um vor die rechte Schmiede zu
kommen. Auf einmal ruft eine weibliche Stimme: „He, lieber Mann,
was suchen Sie denn? Ich sehe auf und — wunderbar — es war
die Frau vom Kirchenkonzert! Ehe ich noch den Hut recht abgezogen
hatte, stand schon ein Dienstmädchen neben mir, das mich einlud hinaus
ins Zimmer zu kommen. Daß ich es kurz mache! Hier war ich an
die rechte Schmiede gekommen. Der Mann der Frau wies mir die
Wege, gab mir Rat und — meine Angelegenheit wurde bald und gut
zu Ende gebracht. Wer hätte mir damals in der Kirche gesagt, daß
der Mann jener Frau bald in die Hauptstadt befördert werden und
mir für solche geringe Höflichkeit ein zehnfacher Vergelter sein würde?
Kurz, Höflichkeit macht Edelmann und Bürger, jung und alt, Mann
und Weib beliebt. Wer's besser wissen will, versuche es mit der Un¬
höflichkeit. Er wird wohl sehen, wie weit er kommt. Nach Weber.