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etwas Salz zu lecken, damit er sie abends wieder nach der Sennhütte
oder nach dem Dorfe treiben kann. Die Ziegen klettern wirklich nicht
schlechter als die Gemsen. Der Geißbub muß aber noch viel besser
klettern können als sie. Hat sich eine Ziege verstiegen, so daß sie nicht
weiter kann, nicht vor- und nicht rückwärts, nicht hinauf und hinunter,
dann muß der Junge zu ihr hinklettern und sie herunterholen. Schwindlig
darf er gar nicht werden.
Die Alpenleute meinen, ein richtiger Ziegenjunge müsse als kleines
Kind nichts weiter trinken als Ziegenmilch, dann werde er nicht schwindlig.
Braten bekommt ein Ziegenjunge im ganzen Jahre nicht, auch
keinen Kuchen und Kaffee. Gerstenbrot und Ziegenkäse sind seine
Mahlzeit einen Tag wie den andern. Will er etwas Warmes haben,
so legt er sich auf den Rücken und melkt sich eine Ziege gleich in den Mund.
Dabei wagt er freilich leicht garstige Nasenstüber. Am schlimmsten
ist er dran, wenn's tagelang regnet und schneit und kalter Wind weht.
Der arme Junge ist barfuß und hat höchstens eine alte Decke oder
einen Sack, um sich hineinzuwickeln. Abends kriecht er ins feuchte Heu;
andre Geißbubenbetten gibt's nicht. Du bist zwar nicht mit Ziegen-
milch großgefüttert worden; hast Du aber noch Lust, Geißbub zu werden,
so schreibe mir's! Vielleicht findet sich hier eine Stelle mit zwei Mark
jährlichem Lohn; dann jodelst Du etwas vor
Deinem Bruder
Hermann.
202. Des Knaben Berglied.
Ludwig Ubland.
Gesammelte Werke. Stuttgart. Erster Band. S. 41.
1. Ich bin vom Berg der hirtenknab,
seh auf die Schlösser all herab;
die Sonne strahlt am ersten hier,
am längsten weilet sie bei mir.
Ich bin der Knab vom Berge.
2. hier ist des Stromes Mutterhaus,
ich trink ihn frisch vom Stein heraus;
er braust vom Fels in wildem Lauf,
ich fang ihn mit den Armen auf.
Ich bin der Knab vom Berge.