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Ich beobachtete die Kleine, wie sie ihre blassen, trocknen
Lippen unbewußt aufeinander preßte und fühlte es warm in meinem
Herzen aufquellen. O, daß nicht auch ich eine Apfelsine in meiner
Tasche hatte! Die hätte ich der kleinen Kranken geschenkt, „fürs
Herzbluten“, wie meine Mutter sagt, wenn sie einem Kinde, das in
der Vesperstunde bei uns eintritt, etwas darreicht. Soll doch das
Herzbluten bei kleinen Mädchen viel früher und heftiger eintreten
als bei kleinen Knaben.
AIs der fremde Vater das Herzbluten seines Lieblings bemerkte,
flog ein schmerzliches Zucken über sein bekümmertes Gesicht.
Er zog den Arm inniger um die Kleine, flüsterte mit ihr, zeigte
nach der grünen wallenden Flur draußen, nach den daraus hervor¬
ragenden Dächern der kleinen Dörfer, nach den majestätisch empor¬
steigenden waldumkränzten Bergen und nach allem, was für das
Auge eine Ablenkung bieten konnte.
Marie schlug wohl dem Vater zuliebe die dunklen Augen auf,
kehrte sie aber, wie von einer heimlichen Gewalt gezogen, immer
wieder den bestrickend duftenden Apfelsinen zu. Ich geriet in eine
peinliche Stimmung, und schon erwog ich, ob ich nicht auf eine
zarte Weise Mariens Fürsprecher werden könnte.
Da erlebte ich eine herzliche Freude. Wie von einer himm¬
lischen Regung getrieben, stand der Junge plötzlich auf und reichte
der kleinen Marie ein Apfelsinenstück, indem er ihr bittend zunickte.
Marie zuckte zusammen, und eine rote Flamme huschte über
ihre blasse Wange. Sie fühlte sich überrascht, fühlte ihr Verlangen
erraten und verschloß eiligst ihre Seele.
Immer dringender wurde der Knabe, doch Marie ließ das
Köpfchen verschämt herabhängen und nahm die Apfelsine nicht.
Jetzt erst schien des Knaben Vater des fremden Mädchens
gewahr zu werden; er klopfte dem Sohne auf die Schulter und sagte:
„Brav, Otto!“ und zu Marie gewandt, nötigte er in dem gleichen
warmen Tone; „Liebe Kleine, du darfst es schon nehmen. Ich
habe noch viel mehr!“ Dabei schälte er auch schon wieder eine
neue Apfelsine.
Doch erst, als Mariens Vater lächelnd sagte: „Na, nimm’s nur,
Kind!“, nahm Marie die Apfelsine aus des freundlichen Knaben
Hand, indem sie ihm zugleich ihr rechtes Händchen gab und ver¬
schämt dankte, ln Ottos Augen aber stand mit leuchtenden Buch¬
staben geschrieben: „Geben ist seliger als Nehmen!“